die oper für einsteiger

GROSSE GEFÜHLE UND WAHRHAFTIGKEIT BEI ANDREA CHÉNIER

07. MAI 2020

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

© Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper - in den Hauptrollen Anja Harteros und Jonas Kaufmann

warum Andrea Chénier?

 

Vier Mal habe ich Umberto Giordanos Oper Andrea Chénier an der Bayerischen Staatsoper in München schon gesehen. Und ich könnte sie noch Hunderte von Malen sehen, ohne der Handlung und der Musik je überdrüssig zu werden, denn mit Andrea Chénier verhält es sich so, wie mit dem Allzeit-Klassiker des Films "Vom Winde verweht".

Die Geschichte, die sich in den Wirren und dem Chaos der Französischen Revolution abspielt, erzählt von einer großen, unverwüstlichen Liebe zwischen zwei Menschen, deren beider gesellschaftlicher Herkunft nicht konträrer sein könnte.

Allen Widerständen zum Trotz finden die Protagonisten zusammen, zelebrieren ganz demonstrativ ihre amourösen Gefühle und gehen sogar gemeinsam mit und füreinander in den Tod.

Jedes Mal, nach jeder Vorstellung habe ich am Ende mit Tränen benetztem Gesicht den Saal verlassen. Ich hätte regelrecht Rotz und Wasser heulen können, so tief hat diese Oper des Verismo mich in der Seele berührt.

 

Echte Emotionen, unerschütterliche Wahrhaftigkeit und eine unglaublich spannende, verdichtete Handlung, geben dieser Liebesgeschichte die richtige Würze und machen es Opernneulingen leicht, sofort in den filmreifen Plot einzusteigen.

 

Auch kompositorisch geht keine andere ariöse Musik so schnell und leicht in den Gehörgang und so schwer wieder hinaus.

Wer romantikaffin ist, eine dichte, intensive und spannungsgeladene Handlung mit viel Aktion und dramaturgischen Höhepunkten nebst historischer Kostümopulenz liebt, der kommt wirklich nicht umher, live und unplugged Französische Revolution "at it´s best", zu erleben.

 

worum geht es?

 

Während im Hause Coigny die Adeligen ein rauschendes Fest feiern, tobt in den Katakomben der Bedienstetenräume bereits die unterschwellige Rebellion des Proletariats gegen die Obrigkeit. Doch die Feiernden bleiben davon unbehelligt.


Zu den geladenen Gästen des opulenten Balls zählt der Dichter Andrea Chénier, der sich nur wenig von den Oberflächlichkeiten der reichen Gesellschaft beeindrucken lässt. Er steht ganz auf der Seite der Französischen Revolution und sieht sich als dichterischer Vertreter der revolutionären Interessen des gemeinen Volkes.
Als er aufgefordert wird, die elitären Gäste mit seinen Dichtungen zu amüsieren, winkt er charmant ab. Erst durch die Spötteleien der Tochter des Hauses, Madeleine, angestachelt, übt er leidenschaftliche Kritik am Lebensstil des Adels.


Mit Madeleines Unterstützung verlässt Chénier ungehindert das ländliche Anwesen und zieht sich in Paris zum Schreiben zurück. Doch dort gerät er immer mehr zwischen die brodelnden Fronten der Französischen Revolution und wird aufgrund seiner Beziehungen zum Adel alsbald als Verräter des revolutionären Gedankens gehandelt.

 

© Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Anstatt aber zu fliehen, verweilt er weiterhin in seinem Versteck, in dem er Liebesbriefe von einer Unbekannten empfängt, die sich als Madeleine entpuppt. In einer Nacht und Nebelaktion findet ein heimliches Treffen der beiden statt.

 

Dabei verlieben sich Andrea und Madeleine ineinander, werden aber vom ehemaligen Gärtner der Coignys aufgespürt, der mittlerweile zum Sekretär der Revolution aufgestiegen und immer noch krankhaft in Madeleine verliebt ist.
Es kommt zum Kampf zwischen den beiden rivalisierenden Männern. Chénier wird gefasst, von Charles Gérard, dem ehemaligen Gärtner der Coignys, verhaftet und eingekerkert. Schon bald soll er dem Tribunal vorgeführt werden, um seine gerechte Strafe entgegenzunehmen.


Madeleine, die Gérard anfleht, Chénier am Leben zu lassen, erfährt Milde und Einsicht. Gérard setzt sich beim Tribunal für Chénier ein. Doch es nützt nichts. Das Volk fordert seinen Tod. Im Gefängnis von St. Lazare schreibt Chénier an seiner letzten Dichtung. Unterdessen besticht Madeleine den Gefängniswärter und tritt anstelle einer verurteilten Delinquentin die Todesstrafe an.


Sie will nicht ohne Chénier leben.


Gemeinsam besteigen die beiden den Karren, der sie bei aufgehender Sonne am nächsten Morgen zum Schafott bringt. Andrea und Madeleine sterben durch die Guillotine und gehen vereint in den Tod.

 

© Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

romantische wahrhaftigkeit,tonaler und dramaturgischer ballungsraum der gefühle, Revolution par excellence!

 

Diese Oper des Verismo handelt nicht nur von einem Dichter, der sich in den Fängen der Französischen Revolution mit fatalen Folgen verheddert, sondern sie ist auch ein Gedicht - und das in allen Aspekten der musikalischen, szenischen und dramaturgischen Interpretation.

 

Lebendige Heiterkeit, die durch symphonische Opulenz hergestellt wird, dominiert vorwiegend im Ersten der vieraktigen Oper. Dabei blitzt das dramatische Leitmotiv der herannahenden Französischen Revolution immer wieder in Repetitionen auf.
Es ist ein effektvoll dosierter Wechsel zwischen Dur und Moll, der den Zuhörer die Ruhe vor dem Sturm erahnen lässt. Diese kurzen eingeschobenen Sequenzen, die dramaturgisch forciert und szenisch ganz besonders prägnant durch den „Revolutionsjoker“ zum Einsatz kommen, verleihen dem Werk eine kompositorische Vielschichtigkeit und absoluten Tiefgang.


Ab dem 2. Akt verdichtet sich die Dramatik immer stärker. Schnelle musikalische Wechsel, spannungsgeladene szenische Parallelwelten sowie dramaturgische Höhepunkte, die nur noch von dem kleinen Kosmos der Liebesgeschichte aufgebrochen werden, bereiten auf den schicksalhaften Ausgang der Geschichte vor.

 

© Bayerische Staatsoper / Trailer

Und dieser scheinbar autonome heile Kosmos der Liebenden bringt die schönsten ariösen Duette und melodiösen Tonwerke hervor, die kurzweilig von den Turbulenzen der Revolution ablenken. Verklärt und entrückt präsentiert sich Anja Harteros in der Rolle der Madeleine de Coigny, die sich in der Arie „La Mamma Morta“ fast schon die Seele aus dem Leib singt.
Gebrochen, verzweifelt, gezeichnet von den Auswirkungen der Revolution, beklagt sie den Tod ihrer Mutter und besingt mit einer trauernden Entrücktheit, verzaubernd fein und perlend klar, ihr großes Leid. Die Welt scheint zu verstummen, sie scheint angehalten zu sein, wenn wir mit Harteros in die tonale Wortmalerei eintauchen.

 

Auch Jonas Kaufmann punktet mit einer besonders großartigen Arie, die ihn in dieser maßgeschneiderten Rolle zum singenden Dichter der Herzen macht.
In dieser, seiner letzten Arie: "Un bel di maggio" werden Leid, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung über das Schicksal zu einem stimmlichen Kaleidoskop der Gefühle. Aus tiefstem Seelenschmerz heraus balanciert die Stimme in zarte, zerbrechliche Höhen und verebbt sanft in einem letzten dunkelsamtig erklingenden Schluchzer.


Keiner hat einen so schönen Klangschmelz, so eine wohlig warme Tenorstimme wie Jonas Kaufmann. Und dabei sind echte Gänsehautmomente garantiert inklusive. Doch der schlussendlich Höhepunkt entlädt sich erst im gemeinsamen Duett zur Arie:"Vicino a te". Rhythmisch immer mehr verdichtet, steuert das Tonwerk und mit ihm die beiden Protagonisten unausweichlich auf das fatale Ende, auf die Klimax der Geschichte zu.


Dabei blühen Kaufmann und Harteros förmlich auf und singen sich fast schon berauscht und euphorisch immer mehr und immer intensiver in ekstatische Klanghöhen. Kraftvoll, ausdauernd und voller Leidenschaft explodiert sodann der letzte Schlussakkord des Orchesters, bevor er abrupt mit dem Fall des Beilmessers der Guillotine verstummt. Aus und vorbei!

 

philip Stölzls puppenhausnostalgie

 

Als Filmemacher etabliert, hat sich Philip Stölzl an die Inszenierung dieser dramatisch, romantisch schönen Oper gewagt. Und gewagt ist gar kein Ausdruck. So revolutionär, wie die Französische Revolution, ist auch das Puppenhauskonstrukt, das überdimensional, fast zwei Drittel der Breite und Höhe der gesamten Bühne einnimmt.


Doch das Experiment ist sehr gelungen. Auf allen Ebenen des Puppenhauses wird gelebt und erlebt - ein filmischer Realismus, der einen Querschnitt durch das Leben der Klassenschichten aufzeigt. Unten, in den Katakomben, tobt sich das gemeine Fußvolk aus, während in den oberen Etagen der elitäre Adel seine rauschenden Feste feiert - genau wie im richtigen Leben.
Stölzl lädt uns ganz bewusst in die Welt der Klassenunterschiede ein. Mit dem Puppenhaus wird das Ganze durch die Stockwerk-Logik im Querschnittverfahren nur noch transparenter und visuell eindeutig nachvollziehbarer.


Doch abgesehen vom sozialkritischen Aspekt, der sicherlich zum Nachdenken animieren soll, kommt der Historik-Liebhaber in dieser Neuinszenierung voll und ganz auf seine Kosten. Opulente Kostüme, historisches Flair, Französische Revolution par excellence, wie man sie sonst nur aus kostenintensiven schillernden Filmproduktionen kennt, erleben in dieser Opernaufführung eine gekonnte, detailverliebte Premiere.

 

© Bayerische Staatsoper - Videomagazin

Die Bühne sprudelt nur so vor Lebendigkeit. Auf allen Ebenen der bewohnten Zimmer ist Bewegung. Und recht oft weiß man gar nicht, wo man genau hinschauen soll, denn in fast jeder Räumlichkeit passiert irgendetwas, wird eine Szene gespielt, während auf der Bühne selbst die Revolution tobt.


Ja, es ist wie im Film oder vielmehr verhält es sich wie im richtigen Leben. Zeitgleiche Abläufe machen die Szenerie bunt, aufregend und bewegt. Genau dieser Ansatz ist Herrn Stölzl  so ziemlich gut gelungen. Und der Spaß am Erlebnis Oper kommt in dieser filmreifen Inszenierung auf keinen Fall zu kurz.

 

Man muss sich das Stück sogar häufiger ansehen, damit die Details nicht im Gesamtbild untergehen. Vielleicht soll man sich aber gar nicht erst mit den Details aufhalten. Schließlich macht das Gesamterscheinungsbild den Eindruck und dieses ist perfekt in Szene gesetzt.

 


verismo, verissimo!!

 

Der Verismo ist Ausdruck echter, wahrhafter Gefühle. Die Handlungen in einer vom Verismo geprägten Oper drehen sich meistens um alltägliche Beziehungsdramen und basieren weniger, zumindest nicht vordergründig, auf politischen oder geschichtlichen Ereignissen.


Im Verismo geht es um die einfachen Menschen, das wahrhafte Leben, die alltäglichen Dramen, die manchmal auch in Mord und Totschlag enden. Aus diesem Grund gibt es auch keine Verismo-Oper mit gutem Ausgang. Diese Stilrichtung, die grundsätzlich die klassische Form der Oper ersetzte, entstand in Italien zwischen 1890 und 1920 und gilt als Vorläufer der Operette.


Zu den bekannten Verismo-Opern zählen:


Cavelleria Rusticana - Pietro Mascagni
Pagliacci - Ruggero Leoncavallo
Andrea Chénier - Umberto Giordano
Giacomo Puccini - Tosca

 

Besonders ausführlich, detailliert und informativ aufbereitet, enthalten die Programmhefte der Bayerischen Staatsoper profundes Hintergrundwissen zu den Inszenierungen, der Opernhandlung, den Akteuren - und das immer vor dem Hintergrund der jeweiligen sozialgesellschaftlichen, politischen und wirtschaftlichen Epoche. Inklusive Libretto, Bildmaterial und Besetzungsplan sind die Programmhefte der Bayerischen Staatsoper unverzichtbar für das Lesevergnügen vor und nach der Vorstellung.



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