08. Dezember 2023
Rubrik Oper
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
Was für ein Wahnsinn! Was für ein wahnsinnig atemberaubendes Märchen, das sich dieser Tage an der Mailänder Scala zuträgt und mit dem die Saisoneröffnung der neuen Spielzeit fulminant eingeläutet wird.
Ein "Staatsakt" sondergleichen, ein offizielles Zeremoniell, auf das ganz Europa, wenn nicht sogar die Welt blicken kann.
Per Livestream übertragen aus dem italienischsten aller Musentempel erlebt der Zuschauer ein grandios inszeniertes Historiendrama, das Verdis Meisterwerk Don Carlo wahrlich alle Ehre macht.
Dass die ganz großen Namen im Spiel um Liebe, Macht, Vergeltung, Rache und Tod bei dieser Inszenierung allesamt mitmischen, lässt sich an so einem besonderen Tag wohl denken:
Anna Netrebko, Elīna Garanča und Luca Salsi - das ist allein schon Musik in den Ohren des erwartungsvollen Publikums.
In vier Akten mäandert die Geschichte um Don Carlo, Elisabeth, Rodrigo, Eboli und König Philipp auf die finale Klimax zu.
Schwelgerisch begibt man sich sofort auf eine Zeitreise in die Vergangenheit, denn die opulent gestalteten Requisiten, die ebenso aufwendig gearbeiteten Kostüme, erwecken eine uralte Geschichte glanzvoll zu neuem Leben.
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
Das nenne ich "Ganz große Oper" - prunkvoll, opulent und die Historie in den Mittelpunkt des Geschehens rückend.
Zum ersten Mal unter all den unverständigen modernen Inszenierungsversuchen, bleibt Arnalda Canalis historienverliebte Interpretation im Gedächtnis haften, ja sie folgt einer bestechenden Logik.
Die Bühne, die immer wieder in ein mattes, zum Teil nachtblaues Dunkel getaucht ist und sich aus Schatten und goldenen Lichteffekten speist, lässt Stimmungen hin- und her changieren.
Spannungsgeladen, elektrisierend und von düsteren Vorahnungen begleitet, begibt man sich mit den Protagonisten auf eine Berg- und Talfahrt nackter Verzweiflung.
Das Zeitalter der Dunkelheit ist angebrochen. Machtverhältnisse verschieben sich, politische Umwälzungen finden statt, amouröses Chaos macht sich breit und Don Carlo und Elisabeth befinden sich mittendrin in den Wirren einer verlorenen Zukunft.
Handlungsintensiv spinnt sich der rote Faden wie von selbst durch alle vier Akte fort. Wie gebannt wird man von einer unsichtbaren Macht Sog-stark in die seelischen Abgründe der Protagonisten gezogen.
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
Seltsam, wie anders die Musik, das Schauspiel und der Gesang wirken können, wenn Dramaturgie und Inszenierung den Werkgedanken des Komponisten komplementieren und ihn sogar noch überhöhen.
Grandios ist auch die künstlerische Leistung der Hauptakteure, die allesamt darstellerisch enorme Präsenz zeigen und stimmlich auf hohem Niveau abliefern, was wiederum Anna Netrebkos Gesamtdarbietung ein wenig in den Schatten stellt.
Irgendwie scheint die Stimme der Sopranistin in den ersten zwei Akten noch ein wenig Anlauf zu benötigen. Nicht schwerfällig, aber doch etwas lax und unbemüht klingt ihr Vokalinstrument, so als ob sie noch auf den passenden Moment warten würde.
Und, nun ja! Genau dieser Moment kommt mit geballter Wucht - und zwar mit der Arie "Tu que le Vanità". Magnetisch irisierende Klangfarben, eine kristallklare Höhe, Töne zart und duftig, schwebend, frei und zügellos.
Jetzt ist die Netrebko total in ihrem Element. Intensiv und dicht ist der Klang ihrer Stimme, warmgolden flutet das Vokalinstrument der Sopranistin das Auditorium.
Es ist wie eine samtweiche Berührung, die im Gehörgang ein angenehmes Kribbeln erzeugt und dem Gänsehautmoment absolut freien Lauf lässt. In Netrebkos Klang löst man sich so gut wie auf, ist nichts mehr und will auch nichts mehr sein, zumindest für die Dauer ihrer überirdischen Darbietung.
So will man die Netrebko erleben, immer und immer wieder: Eine Stimme wie ein ganz großes Gefühl! Fesselnd, packend, hypnotisierend, irisierend, traumverloren, ätherisch!
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
Allen Anschein nach sieht das Publikum im Auditorium das ganz genauso. Es applaudiert, was das Zeug hält, lässt die Sängerin nicht los und vor allem nicht aus ihrem Moment schlüpfen. Still verharrt Anna Netrebko auf ihrer Position, abwartend und im Meer des Beifallsturms wie ein Fels in der Brandung verharrend.
Selbst der Dirigent kann nicht an sich lassen und würdigt die verzaubernde Darbietung seiner Kollegin mit anerkennendem Applaus.
Minuten später setzt er sein Dirigat fort.
Auch Luca Salsi glänzt in seiner Rolle als Rodrigo. Aber wen verwundert das auch. Der Mann, so groß wie ein Schrank und so stark wie ein Bär, hat eine Mordsstimme, die räumliche Grenzen sprengen könnte - ein echter Verdi-Bariton mit allem Drum und Dran.
Oh ja, das kann der Mann mit dem voluminösen, tiefdunklen Stimmorgan, der noch dazu ein grandioser Schauspieler ist und sowohl mimisch als auch gestisch absolut überzeugende Charaktere auf die Bühne bringt.
Am Ende als der Schlussapplaus für ihn fällt, wirkt Salsi für einen kurzen Moment sehr gerührt, so als ob sich eine kleine Träne in sein Auge hinaufkämpfen wollte. Doch ganz Mann, fängt er sich schnell, sodass die für die Kamera gemachte Momentaufnahme schnell am Zuschauer vorbeizieht.
©Brescia & Amisano / Teatro alla Scala
Auch Wunder passieren immer wieder, ebenso an diesem Abend! Welch überraschend positiver Wandel hat sich bloß bei Franceso Meli vollzogen? Der Tenor, der schon bei vielen Aufführungen stark unter dem Radar gelaufen ist, manch glanzvolle Höhe nicht wirklich treffsicher genommen hat, strahlt plötzlich wie aus heiterem Himmel vokal wie ein schimmernder Brilliant.
Unglaublich auf Schöngesang gepolt, emotional durchwirkt und schauspielerisch sehr authentisch liebt man seine gesangliche Interpretation des Don Carlo auf der Stelle.
Meli ist absolut toll. Seine Stimme klingt frisch, frei und hält auch bis zum letzten Schlussakkord durch ohne gepresst, gezwungen oder gar verbraucht zu klingen.
So viel Begeisterung an einem Abend. Wie gesagt, die Cast ist enorm stark, was es einem schwer macht, zu entscheiden, wer denn nun gesanglich am besten abschneidet. Schließlich haben wir auch noch Elīna Garanča, die als intrigante Prinzessin Eboli ebenfalls aus dem Vollen schöpft.
Die eiskalt berechnende Frauenfigur, wunderbar gespielt, steht Elīna Garanča famos. Mit ihrer leicht scheppernd metallischen Vokalkraft gelingt ihr eine perfekte Gesamtdarstellung. Mal Zirze, mal Hexe, mal reumütige Sünderin. Die ganze Palette der emotionalen Temperaturen bringt die Mezzosopranistin virtuos auf die Bühne.
Und was das Dirigat anbelangt, so liefert Ricardo Chailly eine solide Arbeit ab, bereitet dem Gesang einen multifacettierten Klangteppich, auf dem sich wunderbar interpretieren lässt.
Warum am Ende der Vorstellung doch noch Buhrufe laut werden und sich unter die begeisterten Bravi-Rufe mischen -schwer zu sagen. Das ist wohl bei Premieren oft und gerne der Fall.
Don Carlo - Oper in vier Akten - Giuseppe Verdi
Dirigent: Ricardo Chailly
Saisoneröffnung: 07. Dezember 2023
Jongmin Park (Il Grande Inquisitore)
Michele Pertusi (Filippo II)
Francesco Meli (Don Carlo)
Luca Salsi (Rodrigo)
Huanhong Li (Mönch)
Anna Netrebko (Elisabetta von Valois )
Elīna Garanča (Prinzessin vonEboli)
Elisa Verzier (Tebaldo)
Jinxu Xiahou (Graf von Lerma )
Rosalia Cid (Stimme vom Himmel)
Mit Orchestre et Choeur del Teatro alla Scala
Ab dem 16. Dezember kann man die Aufzeichnung auf "ARTE TV" abrufen, die bis einschließlich 5. Juni 2024 in der Mediathek verfügbar ist.