11. Dezember 2023
Rubrik Oper
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Was soll man bloß von der Neuinszenierung der Turandot am Teatro San Carlo halten? Alles beginnt gegenwartsnah mit einem "schwarz-weiß" Filmvorspann, der irritierenderweise an ein mafioses Drama im südlichsten Italien erinnert. In einem monumentalen Kirchenschiff hat sich eine Trauergemeinde versammelt. Turandot, die schwarze Witwe, Calaf, der Geliebte der Witwe und die engsten Familienangehörigen stehen wie zu Eis erstarrt um den Sarg des Verstorbenen.
Von Nicole Hacke
Keiner spricht ein Wort. Nachdem die Zeremonie beendet ist, wenden sich alle grußlos dem Ausgang zu. Turandot und Calaf steigen gemeinsam in ihr Auto, urplötzlich bricht ein heftiger Streit vom Zaun.
Es geht um Männer, Betrug und enttäuschte Liebe. Ganz offensichtlich will Turandot sich nicht auf eine Ehe mit Calaf einlassen, zu sehr quält sie der Gedanke daran, betrogen, verlassen oder gar gedemütigt zu werden.
Calaf ist darüber konsterniert, liebt er doch seine Turandot über alles. Doch sie hält ihn eiskalt auf Abstand und besteht vehement darauf, nicht weiter von ihm bedrängt zu werden.
Dann passiert es: Ein kurzer unaufmerksamer Moment, ein entgegenkommendes Auto, Turandot versucht noch, das Lenkrad herumzureißen, ein Aufschrei, es kracht und dann...
...dann steht der Wagen kopfüber, wie eine aus dem Himmel herabgefallene Rakete inmitten der Bühne des Teatro San Carlo. Wow! Das nennt man aufmerksamkeitswirksame Showeffekthascherei!
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Doch damit noch längst nicht genug. Angereichert mit noch mehr spannungsgeladener Aktion erscheinen wie aus dem Nichts Sanitäter auf der Bildfläche. Calaf scheint schwer verletzt zu sein und muss aus dem zerquetschen Vehikel geborgen werden.
Um ihn herum, aufgeregt und mit den Nerven am Ende, steht die hilflose Turandot, die nicht mehr aus noch ein weiß. Verzweiflung steht ihr wie der blanke Wahnsinn ins Gesicht geschrieben.
So beginnt der fulminante Auftakt einer äußerst konfusen Inszenierung, die sich zwischen den Epochen der Gegenwart und einer vergangenen Realität abspielt.
Dann plötzlich in der Sekunde eines Wimpernschlags befinden wir uns in einer geheimnisvollen Fantasiewelt, allerdings ohne jeglichen China-Klamauk.
Dafür wirkt die Szenerie befremdlich, ja, fast schon paranormal. Gruselige Krampus-ähnliche Schreckgestalten und andere furchteinflößende Wesen umzingeln Calaf, der plötzlich wieder gesundet scheint. Zumindest steht er in ritterlicher Montur voll in seinem vor Kraft strotzenden Saft.
Merkwürdig! Nicht von seiner Seite weichend tritt die verschüchterte Liu von einem Bein auf das andere. Mit ihren flammend roten Haaren und dem niedlichen Blümchenkleid wirkt sie wie eine aus einem Comic entsprungene Manga-Figur.
Parallel auf einer überdimensionierten Leinwand wird ihr Selbstmord in brutaler Herrlichkeit zur Schau gestellt. Liu schneidet sich tatsächlich die Pulsadern auf.
Dickflüssig quillt das Blut über ihre Hände. Ein schonungslos brutaler Thriller, der nichts beschönigt, verklärt oder die Schreckensherrschaft der Turandot verherrlichen soll.
Vasily Barkhatov inszeniert hier wirklich kein kitschiges Märchen, dass nach einem ... und dann lebten sie glücklich bis ans Ende ihrer Tage... schreit. Vielmehr verlangt es ihm nach einer plausiblen Rechtfertigung für Turandots männermordende Gelüste.
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Wohl ähnlich wie bei der aktuell laufenden Wiener Turandot mit Asmik Grigorian und Jonas Kaufmann scheint der Autounfall in Barkhatovs Inszenierung ein Trauma in der Eisprinzessin ausgelöst zu haben, das ihr die Nähe zu intimeren Begegnungen mit Männern unmöglich macht.
In ihr wüten Verlustgefühle, hochköchelnde Ängste, verlassen und alleingelassen zu werden, die mehr als ein imaginäres Schreckgespenst in ihrem verqueren Kopf herumspuken.
Barkatov treibt das psychogrammatische Spiel im Verlauf der dreiaktigen Oper mehr und mehr auf die Spitze. Kurz nachdem Lius Selbstmord auf der Leinwand verblasst, wird ein OP-Raum ähnlicher Käfig langsam von der Bühnendecke heruntergelassen.
Drinnen wimmelt es vor Ärzten und Chirurgen, die in aller Hast versuchen, das Leben Calafs zu retten.
Wiederbelebungsversuche, Reanimationen, das ganze medizinische Gedeck wird aufgefahren, während das Libretto von rollenden Köpfen spricht und der Chor von eben jenen lautstark zu singen beginnt.
Kurz erscheint auch Turandot im Operationssaal, während der "Calaf aus der Parallelwelt" so lange mit einem Stein gegen die Fensterscheiben des OP-Saales hämmert, bis das Glas zu bersten droht.
Der Prinz will Turandot, gefühlt 100-mal ruft er ihren Namen voller Verzweiflung durch die schallisolierten Scheiben.
Doch Turandot ist hinter der Glasscheibe für Calaf unerreichbar. Zeit und Raum, ja Welten trennen beide voneinander.
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Und vielleicht trennen auch Traditionen und Gebräuche die konservativ tickende Turandot von dem scheinbar progressiv denkenden Calaf, der einem als edler Prinz in dem Gewusel aus "Traditionalisten" sehr fehl am Platz vorkommt. Calaf ist ein moderner Held, der Traditionen, Gebräuche und althergeholte Konventionen aufbricht - auf seine höchst gewinnende Art.
Und so wird am Ende doch noch alles gut, fast so wie im Märchen. Nochmal erscheinen Turandot und Calaf auf der Leinwand. Wieder sieht der Zuschauer die Autoszene, der Streit, der sich auf ein Neues zwischen den beiden entfacht.
Aber dann der Plot Twist. Turandot reißt im rechten Moment das Lenkrad herum und rettet Calafs und ihr Leben. Danach fallen sie sich in die Arme - Ende gut, alles gut!
Krönender Abschluss ist bei alledem jedoch die Szene, die sich auf der eigentlichen Bühne abspielt. Ein letztes fulminantes Nessun Dorma erklingt, gesungen vom Opernchor des Teatro San Carlo.
Turandot und Calaf liegen sich am Boden immer noch selig in den Armen, während die Musik diese fast unmögliche Liebesgeschichte mit spannungsgeladener Intensität bis zum letzten krachenden Schlussakkord ins Unermessliche überhöht. Dreimal Wow! Das ist eigentlich viel zu schön, um wahr zu sein! Und eigentlich ist es kaum zu ertragen!
Ist die Turandot wohl doch ein Märchen und lohnt es sich manchmal blind an die Liebe zu glauben?
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Vom Glauben abfallen tut man allerdings bei den teils gesanglich unterirdischen Verirrungen, allen voran bei Sondra Radvanovsky, die als Turandot nicht wirklich glänzt, auch wenn ihr historiengetreues Kostüm die Bühne hell zu erleuchten vermag.
Ihre Stimme vermag es jedenfalls nicht, in den exponierten Höhen zu brillieren. Immer wieder klingt es schrill und viel zu hysterisch, gequält und stark gepresst aus ihr heraus.
Die Rolle ist sicherlich alles andere als leicht zu singen, die Höhen sind einfach mörderisch. Die ganze Partie ist exorbitant sperrig und dem Schöngesang einer Sopranstimme unwürdig.
Warum musste Puccini diese Rolle so kompositorisch grausam und vokalathletisch extrem fordernd angehen?
Fakt ist, nicht jeder Sopran ist den gewaltigen Kadenzen gewachsen, die einem die Stimme überdreht irrsinnig in die Höhe treiben.
Schauspielerisch hingegen muss man Radvanovsky lieben. Sie kann Rollen spielen, sie kann sich auf einen Charakter mit absoluter Authentizität einlassen. Sie brilliert durch emotionale Tiefe und besticht durch ihre überzeugende Glaubwürdigkeit.
Als Medea an der Met in New York war sie umwerfend, unanfechtbar grandios. Schade, dass die Turandot nicht unbedingt ihr Ding zu sein scheint.
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Yusif Eyvazov bringt einen soliden, obgleich farblosen Calaf auf die Bühne. Seine Stimme hält, was sie verspricht zu geben. Technisch fehlt es dem Tenor an nichts.
Klanglich wünscht man sich mehr Facetten, ein satteres Timbre und viel mehr Strahlkraft. Diese Attribute fehlen dem Mann von Anna Netrebko allerdings.
Etwas fahl, matt und ja, glanzlos klingt sein Vokalinstrument. Auch seine Arie "Nessun Dorma" rettet ihn nicht in den Sängerolymp hinein.
Das können andere Tenöre eindeutig berührender und tenoral heroischer darbieten. Auch schauspielerisch mangelt es an detaillierter Aushöhlung des Charakters. Oberflächlich angekratzt versteht man zwar sein Verlangen, sein Sehnen nach Turandot.
Aber irgendwie springt dennoch der Funke nicht so richtig über. Will der Mann sie nun um jeden Preis für sich gewinnen? Oder ist er, Kraft seiner Überzeugung, so siegesgewiss, dass er glaubt, den kleinen Finger nicht krümmen zu müssen, um das Herz der Eisprinzessin zu erobern?
Einzig Liu, die von der Sopranistin Rosa Feola interpretiert wird, hat "Wumms". Stimmlich ein Traum, ein absolutes Sahneschnittchen strömen die melodiösen Klangperlen geschmeidig und glatt über ihre Stimmbänder.
Feolas Timbre ist ein vokales Gedicht, von satter Textur und mit kristallklaren Höhen ausgestattet, biegsam, leicht und duftig zugleich.
Saubere Registerverblendungen, strahlend ausdauernde Legati: Diese Sopranistin hat alles, was eine überzeugende Liu ausmachen sollte.
Und Dan Ettinger? Der ist ein Magier am Taktstock. Bis auf die kleinste Nuance aufgebrochen, quillen die Harmonien und Dissonanzen dieser opulenten Musik aus dem Orchestergraben heraus und verströmen dabei einen überbordend mächtigen Klangteppich, der sich wie eine brechende Welle über Bühne und Auditorium ergießt.
Nass wird man nicht, aber mitgerissen von diesem rauschhaften Sog orchestraler Gewalt. Wirklich zu schön, um wahr zu sein.
©Luciano Romano / Teatro San Carlo
Neuinszenierung Turandot - Teatro San carlo vom 9 bis 17. Dezember 2023
Komponist: Giacomo Puccini
Dirigat: Dan Ettinger
Inszenierung: Vasily Barkhatov
Turandot | Sondra Radvanovsky (9, 12, 15, 17) / Oksana Dyka (10, 13, 16)
Kaiser Altoum | Nicola Martinucci
Timur | Alexander Tsymbalyuk
Calaf | Yusif Eyvazov (9, 12, 15, 17) / Seokjong Baek ♭ (10, 13, 16)
Liù | Rosa Feola (9, 12, 15, 17) / Amina Edris (10, 13, 16)
Ping | Roberto de Candia (9, 10) / Alessio Arduini
Pang | Gregory Bonfatti
Pong | Francesco Pittari
Orchester und Chor Teatro di San Carlo