Jonas Kaufmanns spätherbstlicher Werther am Royal Opera House in London

24. Juli 2023

Rubrik Oper

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

"Die Leiden des jungen Werther", so der Titel von Jules Massenets tonpoetischer Oper, die auf Goethes gleichnamigen Briefroman basiert.

 

Noch vor 12 Jahren an der Opera Bastille in Paris vom Tenor der Tenöre Jonas Kaufmann zum Allerbesten gegeben, scheint die 20 Jahre alte Produktion von Benoît Jacquot ein Revival zu erfahren, nur um der Wiederbelebung Willen?

 

Fest steht, dass die Inszenierung des französischen Regisseurs nichts von ihrem Charme verloren hat und mit der epochalen Romantik der damaligen Zeit liebäugelt. Deutlich schält sich die Melancholie des tragischen Heldenwerks aus dem historiengetreuen Korsett heraus und offenbart eine zutiefst authentische Sichtweise auf die Epoche der Romantik mitsamt ihrer Verklärtheit und Sinnestiefe.

 

Bis auf den jugendlichen Esprit, den einst Startenor Jonas Kaufmann 2011 an der Opera Bastille in Paris aufleben ließ, hat sich am Liebes - und Lebensleid des Antihelden nicht viel geändert.

 

Einen jungen oder gar jugendlichen Werther gibt es am Royal Opera House in London in dieser Aufführungsserie dennoch nicht zu bestaunen. Doch auch ein sich im Spätherbst seiner reifen Jahre befindliche Tenor Kaufmann kann sich durchaus immer noch in dieser Rolle sehen und hören lassen, auch wenn die Interpretation dadurch etwas differenzierter ausfällt, um nicht zu sagen anders.

 

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

Nicht ganz so leidenschaftlich, aufbrausend und ungestüm wie einst in jüngeren Jahren, begegnen wir einem reifen Mann im besten und wohl auch gesetzteren Alter, der sich noch einmal in die Jugend verliebt, nämlich in eine Frau, die mehr Knospe als reife Blüte ist und sich dem Eheversprechen einem anderen Mann gegenüber verpflichtet fühlt.

 

Dieser handlungsexplosive Aufhänger ist die Initialzündung für verletzte Gefühle, übergroßes Leid, verzehrende Sehnsucht nach der einen unerreichbaren "übergroßen" Liebe, die nicht gestillt, befriedigt und ausgelebt werden kann.

 

Und so zieht sich der Handlungsstrang emotional aufgeladen in all seinen rauschhaften Höhen, Abstürzen und Tiefen bis hin zum leidvollen Ende, das so ausweglos erscheint, dass sich Werther aus Kummer wegen des großen Verlusts seiner einzigen Liebe das Leben nimmt.

 

Zwei Welten, zwei Königskinder, die sich zwar nacheinander verzehren, die tückischen Gewässer der gesellschaftlichen Verpflichtungen dennoch nicht durchdringen dürfen, finden also nicht zueinander. Als langatmige Gefühlsduselei könnte man dieses Stück betiteln, wären da nicht zwei Protagonisten auf der Bühne, die ihr schauspielerisches Handwerk überzeugend und mit spannungsintensiver Verve unter Beweis stellen.

 

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

Die Flamme der Liebe zwischen Jonas Kaufmann und Aigul Akhmetshina, alias Werther und Charlotte entzündet sich nämlich immer dann, wenn man sie bereits als längst erloschen wähnt. Es ist ein Schlagabtausch, ein Aufbegehren und Abebben großer Gefühle, stark und furchtlos wie die tragenden Wellen auf ungestümer See.

  

Das, was auf der Bühne des Royal Opera House in London an diesem Abend passiert, hat tatsächlich nicht einfach nur Klasse, sondern fühlt sich echt und nach etwas ganz Großem an.

 

Obgleich Jonas Kaufmann stimmlich nur reduzierte Vokalerotik versprüht und vielmehr mit den leisen Tönen kokettiert, so strahlt der zarte Klangschmelz gefühlvoll in den Orbit des Auditoriums. Gespannt lauschen seine Zuhörer jeder tonalen Regung des Ausnahmekünstlers, der stimmlich etwas angeschlagen wirkt, aber dennoch ganz Profi tiefe Gefühle vokalpräsent in den erlauchten Musentempel produziert.

 

Ist es Vorsicht oder die Angst davor, seine Stimme könnte an unpassender Stelle willkürlich wegbrechen. Vorstellbar wäre es. Doch die introvertierte Sensibilität, stimmlich schattiert und minimal facettiert, steht dieser Rolleninterpretation ganz famos.

 

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

Noch famoser hingegen leuchtet der aufgehende Stern der russischen Sopranistin Aigul Akhmetshina, die sich in einer Glanzpartie beweisen darf. Und wie sie das macht. 

 

Unschuldig, keusch und mit aller widerstrebenden Gewalt der großen Liebe zu Werther entsagend, stemmt sie sich vehement gegen die aufkeimenden Gefühlsregungen, die sie mal in Verzweiflung, mal in Apathie stürzen. Ein wahrhaft meisterliches Schauspiel liefert die junge Sopranistin ab, die sich auch gesanglich eines äußerst ästhetischen Lyrismus bedient.

 

Vollmundig und dennoch jugendlich taufrisch strahlt die lange Stimme ganz besonders in den exponierteren Höhen und verglimmt dort mit hauchzarter Schwerelosigkeit. Zu jeder Zeit nimmt man der charismatischen Erscheinung die mädchenhafte Unschuld ab, die sich verpflichtet fühlt, den letzten Wunsch der sterbenden Mutter zu erfüllen, gehorsam, brav und devot in eine Ehe zu treten, die mehr auf Vernunft als denn auf Liebe basiert.

 

Auch Sarah Gilfort überzeugt mit vokaler Leichtigkeit und schauspielerischer Raffinesse auf ganzer Linie, ebenso wie der kanadische Bassbariton Gordon Bintner, der mit Kalkül und Kaltschnäuzigkeit ein Paradebeispiel eines ungeliebten Angetrauten abgibt.

 

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

©Tristam Kenton / Royal Opera House London

Aber was wären all die Talente auf der Bühne ohne das Dirigat eines Genies?

 

Sir Antonio Pappano versteht die Sprache der Musik wie vielleicht kein anderer Dirigent. Für ihn braucht es keine Übersetzung, denn elegante Klangteppiche, kombiniert mit wohldosiertem Farbenreichtum und einer äußerst differenzierten Orchestrierung, verleihen der Gestaltungsversatilität die nötige Lebendigkeit und Dynamik, mit denen emotionale Temperaturen gekonnt in Szene gesetzt werden.

 

Was für ein Abend, was für ein Jubel. Vor Freude wirbelt Herr Kaufmann seine Gesangspartnerin schwungvoll um die eigene Achse. Das ist Oper mal wieder im ganz großen Stil.


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