02. November 2023
Rubrik Oper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Rachel Willis-Sørensen (Desdemona), Jonas Kaufmann (Otello)
Dass Otello die Paraderolle des deutsch-österreichischen Tenors Jonas Kaufmann ist, hat der charismatische Opernsänger bereits 2017 am Royal Opera House in London unter Beweis stellen können.
Dort erklomm er über Nacht ganz salopp den Mount Everest der hochanspruchsvollen Verdi-Partie, in deren psychologische Abgründe sich Kaufmann mit Verve und schauspielerischer Versatilität emotionsstark versenkte.
Darauf folgten "Otello-Engagements" an der Münchner Staatsoper und dem Teatro San Carlo in Neapel. Und dann? Dann wurde es plötzlich stiller um die Rolle, die dem Ausnahmetenor perfekt zupass steht.
Doch endlich freut sich auch die Wiener Staatsoper, den Sängerinterpreten in einer historisch nostalgiegetränkten Produktion des Regisseurs Adrian Noble erstmalig auf den Wiener Brettern erleben zu dürfen.
An der Seite des französischen Baritons Ludovíc Tézier und der US-amerikanischen Sopranistin Rachel Willis-Sørensen lässt Kaufmann keinen Zweifel daran, dass er die Bühne der Wiener Staatsoper ganz gewaltig zum Beben bringen kann.
Auch wenn die Inszenierung einem Kostümmix unterschiedlichster Epochen gleicht und ganz schwer an die inszenatorisch elegante Aufmachung der Londoner Produktion heranreicht, brillieren doch die darstellerischen und stimmlichen Facetten der Hauptakteure miteinander nur so um die Wette.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Ludovic Tézier (Jago), Jonas Kaufmann (Otello), Bekhzod Davronov (Cassio)
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Ludovic Tézier (Jago), Bekhzod Davronov (Cassio)
Allen voran Jonas Kaufmann, der dem muselmanischen Feldherrn Otello nicht nur vokal, sondern ebenso rollenversiert zu emotionaler Substanz und Tiefe verhilft. Doch wie schwer muss eine psychologisch anspruchsvolle Rolle sein, die sich fast ausschließlich mit den abgründigsten aller Gefühle auseinandersetzt?
Eifersucht ist in diesem Fall das Leitthema, unterfüttert mit mangelndem Selbstwert, drohendem Kontrollverlust und einem angeschlagenen Selbstbewusstsein.
Zwar wirkt Otello nach außen hin wie ein heroischer Kriegsherr, der Schlachten gewinnt und Feinde besiegt. Doch die innere Fassade seines Seelenlebens bröckelt je als die zarte Achillesferse seiner knospenden Liebe zu Desdemona bedroht wird.
Ein Drama, ausgelöst durch eine bösartige Intrige, in der ein harmloses Taschentuch Otello in Zweifel stürzt und seine äußerst zerbrechliche Liebe zu Desdemona letztendlich in den todbringenden Abgrund.
Was Jonas Kaufmann noch zu Beginn seiner Auftaktarie "Esultate" heroisch stentoralkräftig in den Orbit des Auditoriums schmettert, wird nach dem Liebesduett im ersten Akt ein trübes Gemisch aus unterschwellig brodelnden Emotionen, die negativer nicht sein könnten.
Wut, Resignation, Verzweiflung und Hass: Wenn der Tenor mit Leib und Seele in diese Rolle einsteigt, wird das zu einem intensiven, höchst verdichtetem Erlebnis, was wahrlich einer Achterbahnfahrt emotional vielschichtiger Temperaturen gleichkommt.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Rachel Willis-Sørensen (Desdemona)
Dabei entwickelt sich das anfänglich tenorale Gebaren des aufbrausend stolzen und mächtigen Kriegsherren in ein Gefühlsbarometer eisiger Kälte.
Mit hoch dosierten Pianissimi, die sich über feinste Legato-Linien spannen und von raumfüllender Intensität das Auditorium umhüllen, mäandern die düsteren Gefühlslagen durch vokal farbenreiche Nuancen.
Pin-Point phrasiert, dynamisch differenziert und mit ausdrucksstarken Facetten versehen, gelingt es Kaufmann, sein Publikum über alle drei Akte sowohl stimmlich als auch darstellerisch voll und ganz in den Bann zu ziehen.
Es ist eine magische Anziehungskraft, die von Jonas Kaufmann ausgeht. Hypnotisiert hängt man an den Lippen des Sängers, obgleich einem der blanke Wahnsinn aus warmgoldener Kehle entgegenströmt.
Doch was soll man machen, wenn der Spinto-Tenor mit seinem bernsteinfarbenen Timbre, seiner angenehm weichen und saturierten Mittellage so eine gefährlich verführerische Vokalerotik versprüht?
Dass das Publikum in der Wiener Staatsoper jubelt und vor donnerndem Applaus nicht zurückschreckt, zeigt einmal mehr, wie absolut authentisch der Tenor die Rolle des Otello personifiziert, ganz zu schweigen von der gesanglichen Qualität und einer unverwechselbaren Mittellage, die mittlerweile das faszinierendste stimmliche Alleinstellungsmerkmal des Tenors ist.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Rachel Willis-Sørensen (Desdemona), Jonas Kaufmann (Otello)
Genießen kann man in dieser Produktion ebenfalls die versierte Rolleninterpretation der US-amerikanischen Sopranistin Rachel Willis-Sørensen, die eine betörend schöne Desdemona an den Tag legt - und zwar in allen Facetten ihrer gesanglichen und darstellerischen Qualitäten.
Satt und rund in der kräftigen Mittellage, laserscharf und kristallklar in den exponierten Höhen strahlt die Stimme perlend rein mit minimalem Vibrato und duftiger Eleganz.
Dabei fällt deutlich auf, wie nuanciert ihre Stimme sich elegant, leicht und schlank durch sämtliche Register laviert, dabei aber zu keinem Zeitpunkt an vokaler Substanz verliert.
Schauspielerisch wirkt ihr Auftritt im letzten Akt ganz besonders ergreifend, kurz bevor Otello sie ermordet. Ihr Abendgebet ist ein göttlicher Genuss, bei dem man einfach nur dahinschmilzt.
Man kann es kaum glauben, dass ihr Leben danach ausgehaucht sein soll! So eine Stimme. So ein Genuss, bei dem jeder Ton auf der Zunge zergeht und den Gehörgang herunterfließt wie flüssiges Gold.
Diese Stimme ist an diesem heutigen Abend ein Gehörschmaus sondergleichen.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Ludovic Tézier (Jago), Jonas Kaufmann (Otello)
Und auch der französische Bariton Ludovic Tézier steht den zwei ersten Gesangsakrobaten in nichts nach. Zwar gibt der Bariton einen Jago, der auf den ersten Blick nicht böse wirkt, dafür aber so subtil aus dem Hinterhalt agiert, dass sich einem die aufgesetzte Harmlosigkeit fast schon im Magen umdreht.
Schaurig schön und gleichzeitig abstoßend erlebt man Ludovic Tézier, wie man ihn sich in der Rolle des Jago nicht hätte besser vorstellen können.
Zum Fest der Stimmen gesellt sich ein ungemein jungdynamischer Tenor dazu und kontrastiert gesanglich den klangharmonischen "Dreier".
Bekhzod Davronov, der als Cassio dramatische Dynamik ins Spiel der intriganten Menagerie bringt, klingt im Vergleich zu seinen stimmgewaltigen Kollegen erfrischend hell und wartet mit einer gehörigen Portion Esprit auf.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper - Jonas Kaufmann (Otello)
Getragen von einem irisierend herrlichen Klangteppich, untermalt vom Orchester der Wiener Staatsoper, zeigt das Dirigat unter Alexander Soddy, was musikalische Erzählkunst so alles kann.
Bereits mit dem Sturm auf offener See bäumt sich die Kraft des tonalen Facettenreichtums zu einem Feuerwerk explosiver Klangwelten auf. Ohne Worte entstehen emotionale Bilder einer spannungsgeladenen Geschichte.
Ohne Worte bleibe auch ich staunend zurück und erlebe einen Sturm der Gefühle, der applausstark haushohe Wellen auf die Bühne schlägt. Einfach gewaltig!