09. Januar 2023
Rubrik Oper
©Hans Jörg Michel
Puccinis Meisterwerk "La Bohème" ist der Weihnachtsklassiker schlechthin, der sich auch noch zu Beginn des neuen Jahres gut hören und sehen lässt. Doch mit der Inszenierung von Guy Joosten aus dem Jahr 2006 landet die Staatsoper Hamburg tatsächlich einen glatten Volltreffer.
Nicht historiengetreu und schon mal gar nicht in einer nostalgischen Pariser Mansarde untergebracht, hält Puccinis epische Oper in dieser dramaturgischen Einspielung Einzug in ein kleinbürgerliches Milieu, das sich unweit des Rotlichtviertels in einer speckigen, ungepflegten Mietskaserne abspielt.
Und mittendrin in der vermeintlichen Puppenhausszenerie befindet sich ein studentischer Wohnraum, der - ausgekleistert mit roten Tapeten und gerade mal einer einzigen Matratze als Schlafbehausung - spartanisch ärmlich wirkt.
Laut schwadronierend besingen dort vier Studenten ihr kümmerliches WG-Leben und erfreuen sich an dem, was ihnen das Leben an Genussfreuden überhaupt noch bieten kann. Mit der Miete liegen sie im Rückstand und zum Aufheizen des Ofens fehlt ihnen das nötige Kleinholz.
Es fehlt an allen Ende und Ecken. Zu guter Letzt muss das gerade verfasste Manuskript des Poeten Rodolfo herhalten, denn warme Gedanken reichen längst nicht mehr aus, um sich das Dasein schön zu fantasieren.
©Hans Jörg Michel
©Hans Jörg Michel
Dem Zeitgeist ganz nah und auf aktuelle gesellschaftliche Problematiken aufmerksam machend, schafft es der Regisseur Guy Joosten, uns gegenwärtig brisante Themen auf dem schockierenden Silbertablett zu servieren.
Besonders eindrücklich gelingt das im zweiten Akt, als wir mit Musetta und ihren Mädels in die Innereien eines zwielichtigen Clubs entführt werden, in der wohl so manch lustvolle Post abgeht. Draußen im Hinterhof der Spelunke ist es stockfinster. Zarte Schneeflocken fallen. Ein kümmerlich in sich zusammengesackter Schneemann ziert omnipräsent das Bühnenbild.
Trostlos, hoffnungslos und verlassen wirkt die Welt, in die uns der Regisseur entführt.
Doch es kommt noch viel schlimmer: Um der Dramatik die Krone aufzusetzen, blickt der Zuschauer im letzten Aufzug auf die geisterhaft verlassene Mietskaserne, in der niemand mehr wohnt, bis auf die Studentenschaft.
Graffitibeschmierte Hauswände, abgerissene Tapeten, umgestürzte Gegenstände, ein leer gefegter Wohnkomplex, der nur noch Kälte und Einsamkeit ausstrahlt. Es fehlt nur noch die Abrissbirne und das Bild wäre komplett.
Genau dort, in das Elend eines heruntergekommenen Lebens, hält am Ende der Tod mit Mimi Einzug.
©Hans Jörg Michel
Zu gleichen Teilen berührend und radikal zeichnet Guy Joosten ein gnadenloses Bild einer marginalisierten Randgruppe, die in ihrer realistischen und damit wenig idealisierten Darstellung ein bitteres Dasein fristet, in dem sich die hässliche Fratze des Sterbens in Armut überdeutlich zeigt.
Komplementiert wird diese überaus grandiose Produktion mit ebenso fantastischen Künstlern, allen voran Elbenita Kajtazi, die als Mimi eine grandiose Vorstellung abliefert.
Neben ihrer gesanglichen Glanzleistung, die an diesem Abend absolut nicht zu toppen ist, zeigt sich auch das schauspielerische Vermögen der Sopranistin ausdrucksstark und von einer beeindruckenden Authentizität.
Perlend in den exponierten Höhen, duftig zart und mit einer weichen Textur in der eleganten Mittellage ausgestattet, fließen die Töne satt, samtig und farbenreich in das Auditorium. Jeder Ton hat Charakter und besticht durch eine tiefe Beseeltheit.
Einzigartig erlebt der Zuhörer auch das Duett zwischen Rodolfo und Mimi im ersten Akt:"O soave fanciulla". Was für ein hell strahlender Tenor, der sich noch dazu ausgezeichnet auf Schöngesang versteht.
Zusammen klingen Elbenita Kajtazi und Tomislav Mužek fast schon wie aus einem vokalen Guss. Beide Stimmfarben harmonieren perfekt miteinander und auch dynamisch scheinen beide Interpreten gut aufeinander eingestellt zu sein.
©Hans Jörg Michel
©Hans Jörg Michel
Ach, und was wäre überhaupt eine "La Bohème" ohne dieses freche Weibsstück Musetta. Die Sopranistin Katarina Konradi bekleidet die Rolle facettenreich und überzeugt mit ihrer betörend verführerischen Arie "Quando m´en vo" auf ganzer Linie. Koloratureloquent - mit süffiger Leichtigkeit - gelingen die Läufe wie am Schnürchen.
Es ist mal wieder so eindeutig, wer hier wen um den Finger wickelt!
Auch die famose Striptease-Einlage ist charmant, amüsant und unterhaltsam. Doch ohne ihren eifersüchtigen Freund Marcello, wäre das Duo der "Amour-Fou-Verliebten" nicht wirklich komplett.
Mit ausgereiftem, gaumig tiefen Klangschmelz schmettert der Bariton Kartal Karagedik seine Wut und Eifersüchteleien raumgreifend ins Auditorium. Die Rolle steht dem türkischen Bariton und überzeugend dargestellt wird sie auch.
Bleiben noch die studentischen Freunde Chao Deng als Schaunard, Hubert Kowalczyk als Colline und David Minseok Kang als Benoît, die den Bund der Unzertrennlichen gesanglich wie auch darstellerisch perfekt komplementieren.
©Hans Jörg Michel
Das Dirigat von Paolo Arrivabeni erscheint mit der Ouvertüre agogisch leicht unausgeglichen zu sein. So wirkt der orchestrale Klangteppich nicht einheitlich, erscheint ausgefranst und somit nicht wirklich aus einem tempogleichen Guss.
Erst mit dem zweiten Akt bilden die Instrumentalisten ein einheitlicheres Klangbild, das harmonischer aufeinander abgestimmt wirkt.
Dynamisch ebenfalls undifferenziert, insbesondere bei den ariosen Schlüsselstellen, übertönt der Orchesterklang leider die ekstatischen Fortissimi der Mimi, des Rodolfo und spart dabei leider auch die ariosen Duetthöhepunkte nicht aus, was für den Gehörgenuss bedauerlich und äußerst schade ist, da man an genau diesen Stellen nicht viel von den Sängern hört.
Doch die Gesamtleistung zählt und die ist an diesem Abend einfach "formidable".