26. Juni 2023
Rubrik Oper
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
Was für eine aufregende Carmen, die der Fernsehsender ARTE TV bereits seit dem 26. April 2023 im Programm seiner Mediathek führt. Kein Wunder, denn die Operninszenierung des deutschen Regisseurs Andreas Homoki spielt zu gleichen Teilen mit dem Vergangenen und dem Gegenwärtigen.
In das Uraufführungsjahr der Oper zurückversetzt taucht der Zuschauer gleich im ersten Akt in eine Zeit der Résistance ein, erfreut sich an großen Ballroben und wird Beobachter einer elitären Gesellschaft, die in der Oper Vergnügen und Zerstreuung sucht. Die Musik fungiert dabei als reine Bespaßung. Und ohne die tanzbeinschwingenden Einlagen scheint ebenfalls nichts zu gehen.
Wie äußerst charmant, dass sich der Komponist Georg Bizet mit der feurigen und rassigen Femme fatale Carmen eine Protagonistin auserwählt hat, die den Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Sekunde halten kann.
Das weiß auch Andreas Homoki, der diese exotische Frauenfigur so provokativ und radikal feministisch in Szene setzt, dass man mit dem Antihelden Don José ganz furchtbares Mitleid bekommt. Sexuell emanzipiert, egoistisch und herzlos: Geschickt und äußerst gewieft changiert die Emotionalität der Zigeunerin zwischen unterkühlter Unnahbarkeit und lasziver Erotik. Genau das macht die Männerwelt so verrückt nach Carmen.
Bezirzen, Verführen, Kokettieren - und den Männern den Kopf verdrehen: Diese Taktik, die zugleich das Todesurteil jedes verliebten Herzens ist, hat System, ernüchtert zuweilen und lässt die MeToo-Bewegung mal im umgekehrten Verhältnis aufleben.
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
Nicht Carmen ist hier das unschuldige Opferlamm, sondern die Männer, denen sie allesamt das Herz bricht, insbesondere Don José. Dafür und für ihre liebestollen Quälereien wird sie am Ende mit ihrem Leben bezahlen, denn so ganz kommt sie mit ihrem radikalen Freiheitsdrang, mit ihrer narzisstischen Sucht nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, die zudem durch ihren unersättlichen Liebeskonsum getoppt wird, nicht ohne Weiteres davon.
Die Geschichte der Carmen und ihrem Don José ist das klassische Anti-Märchen, von dem man sich immer wieder magisch angezogen fühlt, wohl auch deshalb, weil die Protagonistin eine der kontroversesten Frauenfiguren der Operngeschichte ist.
Amoralisch bis aufs Blut, unsittlich, aufrührerisch, um nicht zusagen höchst rebellisch: Alles das sind Attribute, die einer Frau von damals nicht wirklich zustanden und auch in der heutigen Zeit mit kritischen Argusaugen betrachtet werden. Eine freiheitsdurstige Frau scheint nach wie vor ein irritierender Störfaktor zu sein, eine Gefahr, ein Pulverfass, dass jederzeit unkontrolliert hochgehen kann.
Oder ist es einfach nur ein Tabu, dass Carmen es wagt, in eine gesellschaftliche Domäne vorzudringen, die in der Regel nur Männern vorbehalten ist? Und wie muss man sich eine Carmen aus heutiger Sicht überhaupt vorstellen dürfen?
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
Ganz sicher hat Andreas Homoki in seinem inszenatorischen Ansatz ein tiefenpsychologisches Manifest erstellt, das keinen Zweifel an der Selbstwirksamkeit, Autonomie und Macht einer Frau lässt, die sich selbst die Nächste ist, so egoistisch und narzisstisch das vielleicht auch klingen mag.
Aus dem Grund fasziniert diese geniale wie polarisierende Geschichte immer wieder aufs Neue, unabhängig davon, ob man sie bereits in- und auswendig kennt.
Doch was wäre die Inszenierung, dieser einmalige Geniestreich ohne die Interpretation des Rollencharakters, der von der französischen Mezzosopranistin Gaëlle Arquez phänomenal zum Leben erweckt wird.
Ihre unverblümte, um nicht zu sagen unverschämte Art, sich zu nehmen, was sie in ihre Finger kriegt, hallt durch alle drei Akte wie ein laut scheppernder Donnerschlag nach. Pulsierendes Leben kommt gleich von der ersten Sekunde mit Gaëlle Arquez auf die Bühne.
Dabei setzt das Vollblutweib Gestik und Mimik reduziert, nie übertrieben affektiert und dennoch mit treffsicherer Intensität ein.
Ein Augenaufschlag hier, ein Augenaufschlag dort. Ein eiskalter Blick, der töten könnte... und dann ganz plötzlich ein zuckersüßes Lächeln, das wiederum Eisberge zum Schmelzen bringt.
Wen wundert es da noch, dass der arme, noch grün hinter den Ohren wirkende Don José ganz verdattert und verwirrt reagiert, als er das erste Mal auf die Klassefrau trifft.
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
Gaëlle Arquez ist die absolute Idealbesetzung für diese Charakterrolle und scheint ganz offensichtlich großen Spaß an der Ausgestaltung ihrer Rolle zu haben.
Und dann erst diese Stimme! Geheimnisvoll, verwegen, unergründlich: Diese sonore Tiefe, die fast schon hypnotische Zustände beim Zuhörer auslöst, mäandert mal mit wundersamer Ruhe, mal temperamentvoll aufbegehrend von Arie zu Arie.
Wie eine grazil tänzelnde Tarantel umgarnt sie ihr Opfer Don José mit stimmlicher Biegsamkeit, Eleganz und einem schokoladensatten Timbre, dass Männerherzen einfach zum Schmelzen bringen muss.
Gegen so viel geballte Vokalität, die sich satt, gaumenrund und erotisch warmgolden in den Vordergrund bringt, kann der perplexe Don José kaum etwas ausrichten, obgleich er mit jugendlichem Esprit wahre Tenorwunder bewirkt.
Fréderic Antoun ist ein Schauspieler, der wirklich weiß, wie man eine Rolle nicht nur spielt, sondern sie auf der Bühne auch auslebt. Erst über beide Ohren verliebt, dann verrückt vor Rage über die Abfuhr, die Carmen ihm in letzten Akt erteilt, sticht er letztendlich zu und tötet seine Geliebte.
Unerwiderte Liebe fordert halt ihren Tribut. Und Carmen muss dran glauben! Noch in den ersten Minuten bettelnd, flehend, niederkniend, seine Angebetete wie ein kleiner ertrinkender Junge an den Beinen fest umklammernd, vollzieht Don José spätestens nach Carmens bitterböse Demütigungen eine 180-Grad-Wendung. Wut und Hass vermengen sich nunmehr mit der schwachen Hoffnung, Carmen könnte doch noch zu ihm zurückkehren.
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
©Stefan Brion / Opéra Comique Paris
Doch all das scheint vergebene Liebesmüh zu sein. Mit leidenschaftlicher Verve, ausdrucksstarker und vor allem athletischer Strahlkraft und einer tenoralen Stimmpotenz, die insbesondere in den exponierten Höhen besticht und äußerste Flexibilität bei maximaler Kapazität an den Tag legt, erlebt das Publikum an diesem Abend einen Spitzensportler der Vokalakrobatik, der Schöngesang, schauspielerisches Ausdrucksvermögen und emotionale Temperaturen zu einer gelungen künstlerischen Melange vereinen kann.
Zum Verlieben ist auch die Sopranistin Elbenita Kajtazi, die als liebreizende Micaela mit ihrem lyrisch-eleganten silberfeinen Vokalinstrument nicht nur technisch überzeugt, sondern Klangfarben von höchster Güte zusammen mit einer ganzen Palette an emotionalen Facetten ins Auditorium transportiert.
Zu gerne hört man der Kosovarin zu, wenn sie ihre Arien nicht einfach nur gesanglich darbietet, sondern diese in tonale Geschichten verhüllt mit Charakter, Esprit und Verve erzählt.
Nicht ganz zu 100 Prozent überzeugend gestaltet sich der Auftritt des Toreros Escamillo, der von Jean-Fernand Setti gegeben wird. Ein bisschen steif in der Hüfte, schauspielerisch nicht superversiert und auch gesanglich ein wenig blass, fehlt dem stolzen Stierkämpfer ein wenig das Feuer unter dem Hintern.
Unter dem Dirigat von Louis Langrées gelingt eine nuancierte und spannungsintensive musikalische Erzählung, die einen packt, mitreißt und das Werk Bizets voll und ganz würdigt.
Kurze Einblicke in die Inszenierung an der Opéra Comique in Paris gewährt der Trailer. Carmen kann noch bis einschließlich 2. April 2024 auf ARTE TV abgerufen werden.