Altwerden ist nichts für Feiglinge: Premierenerfolg von Hans & Grete im Opernloft Hamburg

01. März 2023

Rubrik Oper

©Inken Rahardt

Altwerden ist nichts für Feiglinge. Das wissen wir spätestens, seit sich der Romantitel von Joachim Fuchsberger in den Orbit unseres jungen, auf Verdrängung ausgerichteten Bewusstseins geschoben hat.

 

Dass auch die Märchenfiguren Hänsel und Gretel einmal älter werden und sich spätestens im hohen Alter unausweichlich in ihrem eigenen Geist anstatt im Wald verlieren würden, das hätte sich doch wirklich niemand ausmalen wollen.

 

Doch tatsächlich erlebt das Publikum des Opernloft in Hamburg an diesem aufregenden Premierenabend des 28. Februar 2023, dass junge unbekümmerte Menschen, die das Abenteuer ihres Lebens im Wald bei einer bösen Hexe durchleben, plötzlich zu alternden Erwachsenen heranreifen, die sich dem menschlichen Verfall genauso mutig stellen müssen wie dem Kampf um ihre jeweiligen Identitäten und Erinnerungen.

 

Aus Hänsel und Gretel werden Hans und Grete, die in einem Pflegeheim stationiert, die letzten Jahre ihres verbleibenden Lebens mit zunehmend größer werdenden Erinnerungslücken fristen müssen, denn Hans und Grete leiden unter fortschreitender Demenz.

 

Neu interpretiert und aus dem Originalkontext gerissen, kommt einem als Zuschauer nicht eine Sekunde der Gedanke, dass an der zeitgenössischen Interpretation von Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel irgendetwas falsch oder gar unpassend sein könnte.

 

Die Genialität, mit der die Intendantin und Regisseurin Inken Rahardt die Musik des Komponisten in all ihre Einzelteile zerlegt, neu sortiert und der Inszenierung entsprechend mutig angepasst hat, fasziniert und versetzt einen in verblüfftes Staunen.

 

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

Denn die musikalischen Bauteile, bestehend aus volkstümlichen Liedern und großer Opernmusik, die Humperdinck kontrastierend in seinem Werk einsetzte, um einerseits kindliche Naivität, andererseits angstbehaftete Spannung zu erzeugen, hat Inken Rahardt  sehr überzeugend und einfühlsam auf den emotionalen Charakter eines Krankheitsbildes adaptiert, aus dem sich ebenso kindliche Züge wie ängstlich verwirrte Spannungsmomente lesen lassen.

 

Wer alt, gebrechlich, verwirrt und vergesslich wird, der wird gleichermaßen wieder zum Kind.

 

Ebenso brillant wie die Idee, das Pflegeheim als Ort der Verlorenheit dem Symbolcharakter eines düsteren, undurchsichtigen, zum Verirren furchteinflößenden Waldes gegenüberzustellen, ist die Darstellung der bösen Hexe, die in diesem Fall von den drei zauberhaft erscheinenden Pflegekräften Kati, Emilia und Anna charakterisiert wird.

 

Zwar kümmern sich die drei Engel in Weiß so gut wie möglich um die Belange ihrer verwirrten Schützlinge, backen, basteln und unterhalten das debile Zweiergespann auch mit Tanz- und Gesangseinlagen, jedoch geraten die Demenzerkrankten mit fortschreitendem Krankheitsverlauf immer mehr in einen Sog aus Verfolgungswahn, der sie in ihrem verwirrten Geisteszustand das Böse hinter jeder Ecke vermuten lässt.

 

Besonders schöne Projektionen, die auf einer transparenten Leinwand vor der Bühne zum Leben erweckt werden, schaffen atmosphärische Stimmungen, die auf die unterschiedlichsten Geistesverfassungen der Alzheimerpatienten hindeuten.

 

Mal flattern überdimensionierte Schmetterlinge in der Luft und verstärken die illusorische Fantasiewelt der demenziell Erkrankten, mal verschwimmen die drei Pflegekräfte in einer giftgrünen Wolke, in der sie dämonisch tanzend bösartige Fratzen ziehen.

 

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

Alles scheint sich dabei lediglich in den Köpfen der Heimbewohner abzuspielen, obgleich nicht gewiss ist, ob das, was sie dort wahrnehmen, nicht tatsächlich der Realität entspricht, nämlich ihrer eigenen.

 

Musikalisch auf das Intimste reduziert, schaffen Klavier, Cello und Horn eine klangmalerische Atmosphäre, die nicht nur den Charakter von Humperdincks Musik auf das Idealste unterstreicht, sondern auch dem Rahmen eines Musiktheaters mit 100 Sitzplätzen vollkommen gerecht wird.

 

Mehr Instrumentation braucht es wirklich nicht, um sich in die teils verklärte Welt einer Musik zu versenken, die das Verlorene im Geist konturiert widerspiegelt. Und das kommt ganz besonders ausdrucksstark zur Geltung, als Tilman Birschel alias Hans gleich zu Beginn der 90-minütigen Oper das Lied Gustav Mahlers "Ich bin der Welt abhanden gekommen" mit tieftraurigem Pathos interpretiert.

 

Tatsächlich finden auch Mahler und Mozart passgenau und wohldosiert ihr musikalisches Wirken inmitten der vielen "Humperdinckschen Melodien". 

 

Begeisterungswürdig ist an diesem Premierenabend auch die darstellende Kunst der gesanglich überaus starken Cast. 

 

Sylvia Bleimund in ihrer schwierigen Charakterrolle als Grete berührt und rührt das Publikum von der ersten Sekunde bis zur letzten.

 

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

©Inken Rahardt

Großartig spielt sie die verwirrte Alte, die sich kaum noch an ihre eigene Tochter erinnern kann. Mehr und mehr verschwindet ihr geistiges "Hier und Jetzt", während sich ihre nebulöse Welt zunehmend Raum erobert und dabei alle Erinnerungen langsam, aber sicher an das Ufer des Vergessens geschwemmt werden.

 

Ein bisschen leiden wir mit Sylvia Bleimund auf ihrer Reise ohne Zukunft, denn auch das Gestisch-Mimische wirkt so echt und authentisch, dass man schier vergisst, eine schauspielernde Sängerin vor sich zu haben.

 

Gesanglich tief berührend strahlt die nicht mehr ganz so junge Stimme in reifer Schönheit in den Saal. Lyrisch fein, zart und dennoch leuchtend, so genussvoll klingt es, wenn Sylvia Bleimund ihr Vokalinstrument zu voller Pracht entfaltet - und das ganz nebenbei bemerkt mit emotional ausdrucksstarkem Tiefgang.

 

Auch Tilman Birschel schließt man als alten Hans sofort ins Herz. Es geht einem sehr nahe, den klapprigen Herren, der nicht mehr weiß, wer er ist, bei seinen Erinnerungsversuchen auf der Bühne zuzusehen. Fröhlich wirkt er just in den Momenten, in denen es für kurze Zeit noch mal hell in seinem Köpfchen wird. 

 

Die Stimme zuweilen gebrochen, der tonale Fluss dennoch kraftvoll, so stoisch erhebt sich der Widerstand auch vokal gegen die unvermeidliche Krankheit.

 

 

©Inken Rahardt

Fehlen nur noch die drei Pflegerinnen, gespielt und gesungen von Rebecca Aline Frese (Kati), Sophie-Magdalena Reuter (Anne) und Rocio Reyes (Emilia), die mit ihren lyrisch kristallklaren Stimmen und ihrer darstellenden Raffinesse aktionsreiches Theater auf die Bühne bringen.

 

Mit viel Spaß tauchen sie ganz tief in ihre jeweiligen Rollencharaktere ein und scheinen auch ihren dämonischen Part sehr zu genießen.

 

Hans und Grete ist eine rundum gelungene Neuinterpretation des Humperdinck-Klassikers, obgleich doch sehr viel Mut dazu gehört, dieses Werk einmal auf links zu drehen. Aber wie heißt es doch so schön: Wer nichts wagt, der nichts gewinnt!

 

Und Inken Rahardt hat gewagt und gewonnen! Chapeau!


©Silke Heyer

LA TRAVIATA KURZ UND BÜNDIG IM OPERNLOFT HAMBURG

Kurz und bündig, aber nicht zu knapp fällt Verdis La Traviata am heutigen Abend im Hamburger Opernloft aus. 90 Minuten geballte Showtime für ein melodramatisches Werk, das sich unter regulären dreiaktigen Opernbedingungen in langatmigen zweieinhalb Stunden über einen ergießt.

 



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