13. Oktober 2022
Rubrik Oper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
125 Jahre ist es mittlerweile her, dass ein Gustav Mahler das erste Haus am Ring mit seinen symphonischen Werken beglückte. Doch wo Oper gespielt wird und saisonale Auftakte gerne mit einer fulminanten Opernaufführung zelebriert werden, kann der Komponist verzaubernd elegischer Klangfantasien leider nicht mit einer Oper dienen.
Er hatte schlichtweg nie eine komponiert. Doch was wäre die Wiener Staatsoper, wenn sie sich nicht etwas raffiniert Ausgefallenes einfallen lassen würde.
Mahlers Früh- und Spätwerk (Das klagende Lied und die Kindertotenlieder) in einem musikalischen Zusammenschnitt, ausstaffiert mit einer szenischen Geschichte, die auf Endzeitstimmung getrimmt ist und mit Calixto Bieito, dem Enfant terrible der Opernregie am Start, ergibt sich ein apokalyptisches Märchen, das erschreckend dicht an der gegenwärtigen Realität dran ist.
Ob Klimakrise, digital-metaversale Abhängigkeiten, Mord und Totschlag oder gar Kindesmisshandlung: Aus der szenischen Interpretation der Ursprungsgeschichte liest sich zwischen den Zeilen das aktuelle Zeitgeschehen, das umso mehr verstört, irritiert und verängstigt, je dystopischer sich das Geschehen auf der Bühne entwickelt.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Noch relativ harmlos in seinen Anfängen, zeigt sich der erste Akt so grün wie die Hoffnung. Mit Grünpflanzen bewaffnet, scheint das Ensemble der Wiener Staatsoper ein Zeichen im Kampf gegen die Klimakrise setzen zu wollen: "Rettet die Natur, schützt die Umwelt, pflanzt einen Baum!"
Diese Gedanken gehen einen zumindest spontan durch den Kopf, wenn man den Symbolcharakter der bewusst durchdachten Szene richtig zu deuten weiß.
Leider bleibt es nicht bei der schönen Illusion, die Natur kurz vor zwölf noch auf den Weg der Gesundung bringen zu können. Noch bevor überhaupt ein einziger Baum oder eine einzige Pflanze im Erdreich verwurzelt werden kann, entschwindet das Grünzeug auf Nimmerwiedersehen gen Himmel und verliert sich in der Stratosphäre der stark angeschlagenen Ozonschicht.
Die Sintflut kann kommen! Doch Achtung. Wie war das noch im Märchen. Kam da nicht die liebreizende Prinzessin, die der Geschichte immer irgendwie eine Wendung mit gutem Ausgang bescherte?
In Bieitos Inszenierung trägt eine venusblonde Schönheit erhobenen Hauptes einen Blumenstrauch in feierlich zeremonieller Manier in den Kreis der Anwesenden, die sich sogleich erwartungsvoll um die üppige Blumenpracht versammeln und mit großen Kinderaugen staunend, aber viel zu eifrig gierend an der herrlichen Schönheit hängen bleiben.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Als Symbol der Liebe kommt die Blume ins Spiel des Handlungsgeschehens und richtet dennoch menschliche Kollateralschäden mit fatalem Ausgang an.
Wenn zwei Brüder sich streiten, der eine wegen eben dieser einen besonderen Blume für die Geliebte zum Mörder wird, aber eigentlich genügend Blumen für alle da sind, dann ahnt man bereits, dass die Liebe in dieser Interpretation auch als Synonym für die Macht des Kapitals gedeutet werden kann.
Denn alle wollen ein Stück vom großen finanziellen Glück abhaben. Jeder will das größte für sich vereinnahmen und das ganz klar auf Kosten der anderen, ohne Rücksicht auf Verluste - über Leichen gehend!
Dass sich die Menschheit dabei selbst zerstört, wird anschaulich in Szene gesetzt. Der schöne Blumenstrauch wird, getrieben durch die uferlose Habgier und Konsumsucht der Menschen, in sämtliche Einzelteile zerlegt, sodass von seiner Pracht und Größe, von seinem einzigen Lebensquell am Ende gar nichts mehr für niemanden übrig bleibt.
Es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu. Calixto Bieito hat mit seiner schockierend schonungslosen Art ein radikales Exempel eines apokalyptischen Psychogramms statuiert, das durch den zerstörerischen Egoismus einer kranken Gesellschaft nur noch potenziert wird.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Eine Apokalypse befeuert allein durch die exekutive Entscheidungsverirrung des Menschen in allen sozialen, ökonomischen und ökologischen Lebensbelangen.
Nur noch lächerlicher erscheint einem dabei die zweite Szene, die den Fokus auf eine von der Decke herabhängende Kabelwurzel setzt, die wie ein Riesenoktopus mit monströsen Tentakeln wirkt.
Es sind die digitalen Tentakeln, die den Menschen mit aller Kraft umklammern und ihn aus seinem harten Griff nicht mehr loslassen. Genau so ergeht es dem Chor und den Sängerdarstellern, die sich in den chaotischen Wirren des Kabelsalats verlieren und sich bis zum letzten musikalischen Atemzug nicht aus seinen Fängen befreien können.
Oder wollen sie es etwa überhaupt nicht?
Im digitalen Zeitalter der Abhängigkeiten von Google, Facebook und Co. erscheint die Antwort darauf eine Ambivalente zu sein. Bis ins Unerträgliche ausgedehnt, zieht sich diese Szene bis kurz vor Ende der Oper hin.
Sollen die Zuschauer vielleicht darüber nachdenken, warum sie ohne "digitales Leben" nicht mehr atmen können.
Fluch oder Segen oder beides! Diese Inszenierung zwingt das Publikum zum Nachdenken und zum Reflektieren über das Gestern, Heute und Morgen.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Die Verstümmelung eines Kindes, die Perversion an sich, aus seinem abgehackten Arm den Knochen für eine Flöte zu verwenden, geht fast schon nebensächlich im Tohuwabohu des verstörenden Handlungsgeschehens unter, was man großartig oder einfach nur abstoßend finden kann.
Wer sich nun aber für die Inszenierung so gar nicht erbauen will, dem bleibt die musikalische Interpretation der beiden Singularwerke Mahlers, die sich schlüssig zu einer einzigartigen Oper zusammenfügen, dem flüssigen Dirigat von Lorenzo Viotti sei Dank.
Weiche Legati, ausladend orchestrale Gesten und ein nahtloses Verschmelzen des Früh- und Spätwerks zu einem einzigen raffinierten Klangguss machen die Mahler-Oper zu einem musikalisch neuartig andersartigen Erlebnis.
Elegisch strömt der Klangteppich, mäandert durch die Wirren der tonaldichten symphonischen Struktur und verliert sich mühelos in Raum und Zeit.
Auch von den Solisten und dem Chor kann man ebendies behaupten. In ihrer szenischen Welt verloren oder vielleicht sogar schon verloren gegangen, erlebt man eine Darstellungskunst, die authentisch und sich selbst genügend erscheint.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Und so klingt es dann zuweilen auch selbstverloren, wenn die Sängerdarsteller Florian Boesch, Monika Bohinec oder Vera-Lotte Boecker mit ihren gesanglichen Qualitäten elegische Hoffnungslosigkeit, ewige Melancholie und klagende Vokalgebärden von sich geben.
Eine typische Oper zum Dahinschmelzen, Genießen und Träumen ist dieses Werk sicherlich nicht. Es strengt an, denn es fordert zum Dranbleiben auf. Man will den Kontext, nein, die pure Essenz dessen, was uns die Inszenierung sagen will, vollends durchdringen.
Dass so manch einer daran genervt scheitert, ist nicht verwunderlich. Und dennoch: Solche unangepassten Werke, die unsere Zeit beleuchten, sie ausleuchten und sie mit einem kritischen Blick auseinandernehmen, braucht es in der Oper eben manchmal auch.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Eine kleine Geschmacksprobe des Mahler-Projekts "Von der Liebe Tod" bietet der Trailer der Wiener Staatsoper. Kurz und abstrahierend wird ein Rundumriss in musikalischer, szenischer und handlungsweisender Manier gemacht. Eine gelungene Zusammenfassung eines außerordentlich gegenwärtigen Meisterwerks.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Der Intendant der Wiener Staatsoper resümiert über das Mahler-Projekt "Von der Liebe Tod", die erstmals in diesem Jahr im ersten Haus am Ring zur Uraufführung kommt.