30. Juni 2022
Rubrik Oper
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Im Rausch einer ausufernd orgiastischen Partynacht im gräflichen Haus Montova, auf der Straße die ausgeschlossene Dienerschaft der lustvoll exzessiv feiernden Gäste: So krass konturiert der italienische Regisseur Mario Martone die eindeutigen Klassendivergenzen zwischen der reichen Überflussgesellschaft und dem hab- und seliglosen Bürgertum, das in dieser aufrührenden Inszenierung an den Rand des marginalisierten Abseits getrieben wird.
Stürmisch und mit Leidenschaft ausgebuht spaltet diese moderne, obgleich zutiefst realistische und zeitgeistintensive Interpretation die teils aufgebrachten Geister des historikaffinen Publikums an der Mailänder Scala.
Rigoletto, das ist Verdis Allzeitklassiker der italienischen Oper, ein Stück, das so meisterhaft komponiert, auch kontextuell mit seiner dramengespickten Handlung provoziert und eindeutige Parallelen zu unseren gegenwärtigen sozialgesellschaftlichen Strukturen aufzeigt.
Ein buckeliger Hofnarr wird zum Opfer einer privilegierten Gesellschaft, seine Tochter Gilda zum Spielball einer amoralischen Elite. Arm bleibt arm und reich bleibt reich. Dazwischen findet lediglich der verzweifelte Klassenkampf statt, der nur zwei Gewinner zählt: Reichtum und Macht!
Genau mit diesen zwei siegesgewissen Errungenschaften kann sich die elitäre Gesellschaft eine reine Weste, ein reines Gewissen und eine Moral erkaufen, während tugendhafte Attribute wie Anstand und Ehre lediglich wie leere Worthülsen im Orbit des champagnerdurchtränkten Abends umherzuschwirren scheinen, wenn überhaupt.
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Gleich zu Beginn des 1. Aktes lässt Mario Martone das Geschehen auf der Bühne in einem schicken Villenviertel spielen. A-typisches Understatement unterstreicht dabei den unaufgeregten Luxus, den minimalistischen Einrichtungsstil, der modern, clean und äußerst aufgeräumt die chaotische Kloake der armseligen Behausung Rigolettos und seiner Tochter Gilda in verstörender Weise kontrastiert.
Eine dreckig wirkende Toilette, die als zentraler Blick- und Angelpunkt des Bühnenbildes dient, springt einem mehr übel als wohl förmlich ins Auge. Leider bleibt einem nichts anderes übrig, als wie fixiert auf diese ekelerregende Ausgeburt der Hässlichkeit zu starren.
Und auch das ganze Drumherum, das Wirrwarr an ineinander verschachtelten kleinen Wohnparzellen, die düster, unaufgeräumt und spartanisch lieblos gestaltet sind, verdeutlichen einmal mehr, wie es um die Klassengesellschaft und deren unübersehbare Missstände steht.
Martone avanciert in dieser scharfgeistigen Produktion zu einem Meister der provokativen, brennglasscharfen Auseinandersetzung mit der Armut.
Doch mit dem dramaturgischen Wendemanöver im Schlussakt wird man unvorbereitet auf schockierende Weise überrannt. Während Gilda noch in den Armen ihres geliebten Vaters Rigoletto verstirbt, Sanitäter herbeieilen, um den Leichnam wegzuschaffen, findet wie aus dem Nichts ein plötzlicher Schusswechsel in den Gemächern des Grafen statt.
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Laut knallend und mit den finalen Schlussakkorden des Orchesters kollidierend, spritzt Blut an Wände und klebt an leblosen Körpern, die über Treppenbrüstungen wie schlappe Puppen kopfüber ins Leere hängen.
Es ist ein Bildnis des Grauens, dass einer ausgleichenden Gerechtigkeit Tribut zollt. Der Graf von Montova und seine Sippschaft sterben zusammen mit Gilda und dem seelisch zerbrochenen Rigoletto. Arm und Reich begegnen sich im Tod, denn nur im Jenseits sind die Menschen schließlich alle gleich.
In seinem Rollendebüt als Rigoletto an der Mailänder Scala läuft der Mongole Amartuvshin Enkhbat zu unbestreitbarer Höchstform auf. Die Rolle wie auf den Leib geschneidert, nimmt man dem stämmigen und urgewaltig stimmwuchtigen "Barden" die Interpretation des umsorgenden, sehr besorgten Vaters ab, der im Laufe der dreiaktigen Handlungskadenz charakterstark nahezu in Rachegelüsten ertrinkt und so extrem wutschäumende, aufbrausende und schauspielerisch unkontrolliert explosive Rage an den Tag legt, dass sich beinahe schon die Balken des fragil wirkenden Bühnenkonstrukts biegen.
Emotional tief und absolut ergreifend packt einen jedoch die Sterbeszene der Gilda. Schluchzend, klagend und schmerzhaft verzweifelt erlebt man den mächtigen Bariton leise an seinem Kummer über den Tod der Tochter zerbrechen. Zärtlich sind die Gesten. Die Mimik des Sängerdarstellers spricht Bände und der Gesang fließt ruhig strömend, nur durchbrochen von überaus menschlichen Gefühlsregungen.
Das Schauspiel ist so packend, so magnetisierend, dass man sich voll und ganz in seinen Bann gezogen fühlt.
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Und auch Nadine Sierra, die es wieder mal versteht, charakterstarken Frauen im absoluten Wortsinn eine Stimme zu verleihen, glänzt in überragender Weise an diesem Abend.
Dramatisch weit ausholend, versteht man die Verzweiflung der jungen Frau, die missbraucht und weggeworfen immer noch einer Liebe hinterher schmachtet, die lediglich bittere Illusion ist. Mal lyrisch zart und anschmiegsam und von einem berauschend honiggoldenen Timbre ummantelt, schwingt sich das Vokalinstrument der US-Amerikanerin in schier grenzenlose Klangwelten und exponierte Tonalhöhen.
Schillernd erstrahlt die Stimme in jeder Tonlage, facettenreich, irisierend und nahezu sphärisch, genau dann, wenn die glückseligen Momente der Gilda sich ihren Weg durch das fahle, ärmliche Leben zu bahnen versuchen.
Und auch in der dynamisch reduzierten Dramatik der Sterbeszene bäumen sich die letzten harmonischen, sehr rezitativisch anmutenden Klänge ihren Weg in die magische Dunkelheit. Leise flimmernd und von einer tiefen Beseeltheit durchdrungen, singt sich Nadine Sierra zum aus der Haut fahren in den vielleicht schönsten, anmutigsten Todeskampf.
Ihre Augen glänzen, ihr letzter Blick ist gen Himmel gerichtet. Und dann ist es ausgehaucht, das viel zu junge, unschuldige Leben.
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Scharf kontrastiert durch Gianluca Buratto, der sich als schurkenhafter Auftragskiller Sparafucile sein täglich Brot verdient, erlebt man die brutale, gewissenlose Seite eines Mannes, der Geld über alles stellt und dafür über Leichen geht, egal wer seinem Schicksal zum Opfer fällt.
Er tötet für Geld, die Menschen interessieren ihn nicht. Eindringlich gespielt und mit einer durchsetzungsstarken Stimme gesegnet, überzeugt der verschlagene Anti-Held ebenso eindrucksvoll wie Fabrizio Beggi, der als Conte Monterone Rigoletto zum Erschaudern schön verflucht.
Einziger Wermutstropfen scheint das Allround-Paket des Piero Pretti als Graf von Montova zu sein. Nicht zu 100 Prozent überzeugend, weder schauspielerisch noch stimmlich, schlägt der schale Schwerenöter in charakterdarstellender Intensität deutlich ab vom Feld der herausragenden Rollendarsteller. Ob es wohl zum Großteil an der Stimme liegt, die stellenweise bemüht klingt und scheinbar nicht in allen Tonlagen immer ganz rund läuft.
Seine Arie "La donna è mobile" klingt gefällig, aber nicht wirklich verführerisch. Sie plätschert melodiös dahin, ohne in irgendeiner Weise zu berühren oder gar ein unter die Haut gehendes Prickeln zu erzeugen.
Orchestral hingegen legt sich Michele Gama an diesem Abend wahnsinnig ins Zeug. Dramaturgische Höhenflüge werden gekonnt durch eine umsichtig dosierte Dynamik unterstützt. Das verleiht dem Melodram Würze, Tiefe und absolute Spannungsmomente.
Selbst die Buhrufe im aufgeregten Saal des italienischen Musentempels tragen zu einer rundum gelungenen Vorstellung bei. So ist nämlich das Leben - kein immerwährend harmonischer Strom aus regenbogenintensiven Farben, sondern das Wüten zwischen Applaus und Empörung.
©Brescia and Amisano / Teatro alla Scala
Ein farbenreiches Spektakel mit Nadine Sierra und Amartuvshin Enkhbat in den Hauptrollen: Rigoletto in einer skandalträchtigen Inszenierung von Mario Martone an der Mailänder Scala.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Denn sie wissen nicht, was sie tun! Was der gleichnamige Film mit James Dean aus den 50er Jahren so eindrucksvoll vorgemacht hat, scheint der Regisseurin Barbara Wysocka...
©Gregor Hohenberg
Was auch immer die US-amerikanische Sopranistin Nadine Sierra anpackt, es gelingt. Auf ihrem neuen Album "Made for Opera", zu Deutsch "Geboren für die Oper", bestätigt sich nur, was in der zierlichen Opernsängerin mit der grandiosen Stimme alles so drinsteckt.
©Screenshot MediciTV / Nadine Sierra
Wer für eine bessere Welt, verbesserte Lebensbedingungen und ein starkes Wir-Gefühl kämpft, weiß ganz genau, wofür er einsteht. Der charismatischen US-amerikanischen Sopranistin Nadine Sierra...