22. März 2022
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Denn sie wissen nicht, was sie tun! Was der gleichnamige Film mit James Dean aus den 50er Jahren so eindrucksvoll vorgemacht hat, scheint der Regisseurin Barbara Wysocka als geniale kinematographische Vorlage für ihre eigensinnige Interpretation von Donizettis Melodram Lucia di Lammermoor zu dienen.
Mit Nadine Sierra in der wahnsinnstollen Rolle der Lucia und mit Charles Castronovo als luftikusgrandioser Edgardo steht an diesem Samstag ein Dream-Team auf der Bühne der Bayerischen Staatsoper,
das sich in einer Glamourwelt in den jeweils dazugehörigen Rollenpartien der elitären Jackie O und des aufmüpfigen James Dean verliert.
Überhaupt scheinen die alten Adelsgeschlechter der verfeindeten blaublütigen Familien Ashton und Ravenswood im aktuell zeitgenössischen Kontext der Handlung ausgedient zu haben, zumindest in
dieser progressiven Interpretation.
Rock´n Roll, Rebellentum, Leidenschaft und Aufbegehren sind die hochexplosiven Zutaten, derer sich die Regisseurin aus dem Stegreif gekonnt und aus gutem Grund, wie es scheint, mit aller Vorsätzlichkeit bereits seit 2015 bedient.
Und warum auch nicht. Die 50er Jahre waren geprägt von sozialgesellschaftlichen Umbrüchen, alte Rollenmodelle dienten offensichtlich aus, Frauen waren auf dem Vormarsch, sich ihren Platz in der
Gesellschaft langsam zu erkämpfen, während die Vorherrschaft des Patriarchats bröckelnd in sich zusammenfiel.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Der Gleichberechtigungskampf des weiblichen Geschlechts kam unaufhaltsam ins Rollen und sorgte für gravierende Einschnitte in die tradierten Strukturen der Männerwelt, die sich bedroht von dieser sozialgesellschaftlichen Entwicklung vehement gegen das anbrechende Zeitalter der Frauen erwehrten.
Und genau in diesem Kampf der Geschlechter treffen wir auf Lucia, eine Frau, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen will.
Vergebens kämpft die freiheitsliebende junge Frau gegen die ihr auferlegte Zwangsehe und sieht sich alsbald in ihrem Recht auf Liebe, Leidenschaft und grenzenloser Möglichkeiten in einer immer noch starr strukturieren Welt hintergangen und betrogen.
Verstrickt in intrigante Machtspiele, steht sie ohnmächtig zwischen den Stühlen der eigentlichen Entscheider über ihr Leben.
Und allesamt sind es Männer, die Lucia in die Knie zwingen, sie um ihre Autonomie berauben und ihr zu guter Letzt indoktrinieren, in welchen Bahnen ihr Leben zu verlaufen hat.
Barbara Wysocka fokussiert die Leidensgeschichte der im Wahnsinn endenden Lucia auf eine faszinierende, kontrastreiche Epoche, die zwischen Extremen eingeklemmt, mit einem bunten Blumenstrauß an
Möglichkeiten lockt und dennoch immer noch rar gesäte Perspektiven für die Frauen jener Zeit eröffnet.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
In der Partie der Lucia förmlich aufgehend, zeigt die US-amerikanische Sopranistin Nadine Sierra, was in dem Teufelsweib einer kämpferischen Frau alles so drinstecken kann.
Gesanglich unübertroffen singt sich La Sierra insbesondere in der knapp 23-minütigen Wahnsinns-Arie in ekstatische Gefühlszustände und das mit einer ausdauernden vokalen Versatilität, die das Publikum in fasziniertes Staunen versetzt.
Duftige Leichtigkeit gepaart mit einer äußerst biegsamen Stimmelastizität machen Sierras Koloraturen zu einem absoluten Hochgenuss.
Hell und leuchtend, doch nie metallisch schrill entgleitet ihr samtweiches Stimmorgan in orgiastische Tonalsphären und entlädt sich dabei mühelos in den exponiertesten aller Spitzentöne. Es prickeln die Klangperlen honigsüß am Gaumen und man fühlt wie Herz und Seele auf das Angenehmste stimuliert werden.
Tatsächlich hat Sierras Klangschmelz eine so schmeichelnd weiche Textur, dass man sich in ihr auflösen könnte.
Nicht ein einziger Ton klingt je angestrengt, forciert oder gar gequält. Nadine Sierra beherrscht ihre Stimmtechnik in formvollendeter, nahezu entspannter Präzision.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Nicht eine Sekunde ermüdet man während der wohl langwierigsten Soloeinlage der charismatischen Sängerdarstellerin, denn auch ihr schauspielerisches Vermögen lässt keine Wünsche offen.
Irre geworden, blitzt der blanke, kalkulierte Wahnsinn eiserstarrt aus ihrem mörderischen Blick.
Den Mann, den sie ehelichen musste, hat sie bereits getötet. Jetzt spielt sie mit einer geladenen Pistole und dem Gedanken, sich selbst das Leben zu nehmen.
Es ist ein knapp halbstündiges Spiel mit dem Tod, dass wie ein anmutiger Tanz auf der Klaviatur des Lebens vor sich hinplänkelt.
Nadine Sierra macht eine echte Show daraus, kokettiert mit dem Publikum, flirtet mit der Pistole in ihrer Hand und lässt sich von ihrem wahnsinnigen Spiel mit dem Tod nahezu berauschen.
Diese Szene ist nicht nur eine gesanglich überdurchschnittlich herausfordernde Partie, sondern fordert eine ebenso ausgereifte darstellerische Bühnenpräsenz ein. In einer Robe so glanzvoll wie die Hollywood-Ära selbst, stellt das Ausnahmetalent all diejenigen in den Schatten, die sowieso schon am Rande des Bühnenbildes kauernd am Boden liegen.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Charles Castronovo in der Rolle als Sir Edgardo Ravenwood überzeugt gesanglich gleich zu Beginn des 1. Aktes im gemeinsamen Duett mit Lucia.
Wie aus einem Guss verschmelzen die Stimmen der Hauptprotagonisten harmonisch klangsatt miteinander.
Stimmfarben und Stimmschmelz scheinen passgenau aufeinander abgestimmt zu sein, so als ob auf der Bühne nicht nur darstellerisch, sondern ganz besonders vokal, ein Liebesmatch stattgefunden hätte.
Gleich nach der ertsen Pause beweist Castronovo in seiner großen Arie, dass er sich in einer schwierigen Glanzpartie ausdauernd und souverän behaupten kann.
Die Stimme fließt, ja, sie strömt durch einen klangmalerischen Belcanto und wird immer wieder von zarten Lamenti durchbrochen. Facettenreich, wohl timbriert und phrasierungssicher:
Castronovos kraftvolle Stimme zieht alle tenoralen Register, die so ein Ritter vom hohen C bedienen kann.
Mit vollem Körpereinsatz, einer ausgeprägt darstellerischen Versiertheit erlebt man den Tenor mit der hell durchwirkten Klangfarbe als perfekten James Dean Verschnitt, der seiner Gesangspartnerin rollenversiert und gesangstechnisch in absolut nichts nach steht.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Ein Bösewicht par exellence ist definitiv Andrzej Filonczyk, der als Lord Enrico Ashton über das Schicksal Lucias entscheidet.
Elegante Phrasierungen, vielschichtige Klangfarben und eine differenziert eingesetzte dynamische Vokalgestaltung machen die Partie des polnischen Baritons zu einem belcantischen Kaleidoskop.
Unter dem Dirigat von Evelino Pidó gelingt eine ausgeprägt dynamische Interpretation von Donizettis Werk. Dicht orchestriert und dennoch als rein musikalische Untermalung stützt das Dirigat den Erzählcharakter der Handlung, nimmt sich weitestgehend zurück und schiebt sich nur dann in den Vordergrund, um dem Geschehen auf der Bühne noch mehr dramatisch effektvolle Brisanz zu verleihen.
Donizettis kompositorisches Meisterwerk strahlt jedenfalls in allen belcantischen Facetten, das orchestral durch besonders leuchtende Klangakzente abgerundet wird.
Eine höchst atemberaubende Vorstellung der Lucia di Lammermoor findet an diesem Abend einen spannenden Abgang, wie er wohl selten so divenhaft und verzaubernd glamourös in Szene gesetzt worden ist.
©Diana Damrau / über youtube zur Verfügung gestellt
Die Wahnsinns-Arie mit Diana Damrau in der von Barbara Wysocka 2015 neuinszenierten Lucia di Lammermoor an der Bayerischen Staatsoper.
©Bayerische Staatsoper / über youtube zur Verfügung gestellt
Was hat eine Glasharmonika oder besser gesagt eine Armonia in einem so belcantischen Werk wie dem der Lucia di Lammermoor zu suchen?
Donzetti bestand darauf, die Wahnsinns-Szene der Lucia auch in musikalischer Hinsicht mit einer wahnsinnig irren Klanguntermalung zu gestalten.
Die Glasorgel sollte dabei Töne produzieren, die tinnitusähnliche Effekte nachahmen, eine nebulöse Verwirrtheit erzeugen und so penetrant und gleichzeitig mysteriös klingen konnte, um so den psychologischen Wahnsinn tonal perfekt zu imitieren.
Die erste Armonika wurde 1761 erstmals von Benjamin Franklin erfunden und im Laufe der Jahrhunderte in Glasharmonika umbenannt. Sogar der Komponist Richard Strauss verwendete eine Glasharmonika in seiner Oper "Die Frau ohne Schatten".
Gebaut wurden die gläsernen Klangkörper hauptsächlich in deutschen Glashütten.
In diesem Video der Bayerischen Staatsoper erklärt Sascha Reckert, was es mit der Glasharmonika noch so alles auf sich hat.
©Screenshot MediciTV / Nadine Sierra
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