Mit Pauken und trompeten: Die Barockoper L´Orfeo rockt das Publikum in der Wiener Staatsoper

21. Juni 2022

Rubrik Oper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Kann man sagen, dass diese über 400 Jahre alte Oper - die erste legitime musiktheatralische Version ihrer Gattung - überhaupt noch den aktuellen Zeitgeist trifft? Und wieso sollte sie auch nur im entferntesten Sinne epochale Welten überwinden?

 

Schließlich thematisiert sie nur eine von vielen banal fatalen "Romeo und Julia" Geschichten des alltäglichen Lebens, derer sich auch andere Komponisten lange nach Monteverdis Musikregentschaft in ihren Opernwerken bedient haben.

 

Mythologisch fabelhaft und philosophisch tiefgründig ausgestaltet, lässt Monteverdis L´ Orfeo geistigen Spielraum für vielerlei interpretatorische Diskursmöglichkeiten oder auch nicht.

 

Erstmalig an der Wiener Staatsoper in einer Top-Besetzung fantasievoll und kostümopulent in Szene gesetzt, begibt sich der Regisseur Tim Morris auf eine favolesque Reise in die Vergangenheit griechischer Mythen und öffnet dabei die perspektivisch uferlose Box der Pandora.

 

Wie viel Gegenwart steckt in dem Werk und seiner althergeholten Musik. Was erlebe ich auf der fünfaktigen Reise durch die Favola in musica und was sollen mir 400 Jahre Vergangenheit gegenwärtig überhaupt vermitteln?

 

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Bereits im Foyer, an den Aufgängen, im Saal und eigentlich überall in den erlauchten Hallen der Wiener Staatsoper mischen sich die Sängerdarsteller des Abends unter die Leute, vermischen sich kakofonisches Stimmgewirr, pompös erklingende Pauken und Trompeten mit den wogenden Wellen elektrisierender Vorfreude.

 

Das ist ein wenig befremdlich, ungewohnt, aber aufregend und wahrscheinlich sehr bezeichnend für die damalige Epoche. Denn an diesem Abend wird lebendig, was in einer verstaubt historischen Schublade längst schon begraben schien:

 

Das Barockzeitalter!

 

Erwacht aus seinem 400-jährigen Dornröschenschlaf, tönt es am heutigen Abend weit hinaus bis auf den straßenbahnlärmenden Vorplatz der Staatsoper und verbreitet die äußerst frohe Kunde, dass L´Orfeo und Eurydike heiraten werden.

 

Und alle, die wollen und sich einen Platz in den hehren Hallen des Musiktheaters ergattern konnten, befinden sich ehrengästehalber lange noch bevor der erste Akt in die Spielrunde geht, mitten drin im quirligen, pulsierenden Geschehen einer vergangenen, aber gegenwärtig musikalischen Unvergänglichkeit.

 

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Dann plötzlich bäumen sich lärmend Trommelwirbel auf. Sofort wird es mucksmäuschenstill im Auditorium. Erwartungsvolle Anspannung weicht der belanglosen Schwadronierlust des Publikums.

 

Der Meister am Taktstock bahnt sich seinen Weg durch den Mittelgang des Parketts. Am Dirigentenpult angekommen erwartet ihn das Gastorchester Concentus Musicus Wien, das sich begnadeterweise auf die alten Instrumente einer längst vergangenen Epoche versteht.

 

Fast scheint mir das theatralisch effektvoll ausgeschlachtete Spektakel gleichermaßen Bespaßung und kunstvolle Inszenierung zu sein. Kunsttheater eben, das recht verschnörkelt, ein wenig gestelzt und dennoch außerordentlich emotional farbenreich daherkommt.

 

So farbenreich wie seine fantasievollen Kostüme und das schier ausgelassen bunte Treiben seiner Rollendarsteller auf der Bühne.

 

Doch relativ schnell nach Erklingen der ersten Töne weicht das fröhlich durharmonische Geplänkel einer melancholisch mollintensiven Kantilene.

 

Wie aus dem Nichts durchdringt die verzaubernd klangetherische Stimme der Mezzosopranistin Kate Lindsay die Bühne. Als personifizierte Musik stimmt die Sängerdarstellerin in zartgliedriger Feengestalt und in einem Kostüm mit Wow-Effekt ihren leidvollen Prolog an.

 

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Hingerissen, nahezu berauscht lauscht man der dunkelsamtig timbrierten, unglaublich fein nuancierten Stimme, die von der positiven Macht der Musik erzählt - die Kernessenz des dramaturgischen Handlungsstrangs.

 

Geht es oberflächlich um die Liebe zweier Menschen, so scheint die sinnbildliche Konklusion der mythologischen Erzählung im Sieg der Kunst über den Tod zu münden.

 

Alles Vergängliche bleibt vergänglich, nur die Musik, die Kunst und alles, was aus schöpferischem Geist entstanden über die Jahrhunderte weiter existiert, wird aus der Vergänglichkeit in die lebendige Gegenwart getragen, unaufhaltsam und fortbestehend.

 

E voilà! Wenn das nicht die Antwort auf die Ausgangsfrage ist.

 

Georg Nigl, der in seiner Rolle als Orfeo vollends überzeugend und stimmpotent aufgeht, versucht seine geliebte Eurydike aus der Unterwelt vor dem sicheren Tod zu befreien - und zwar mit der positiven Kraft seiner vokalathletischen Fähigkeiten.

 

Dass ihn diese bis zum letzten Akt nicht im Stich lassen, liegt vor allem an seinem ausdauernd dahinströmend messerscharfen Schöngesang. Rezitative gelingen ihm genauso elegant und sprühend wie Triller und Ribatutti, die in ihren oftmals langatmig erscheinenden Iterationen das Gehör schnell ermüden können.

 

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Nicht so der österreichische Barde mit der farbenreichen Stimme, der sich auch charakterdarstellerisch aus der Masse hervorhebt.

 

Ebenso rollenstark und stimmlich facettenreich erlebt man die Mezzosopranistin Christina Bock in der Doppelrolle als Botin und Ehefrau Proserpina, die ihren Gatten, den Herrscher der Unterwelt, dazu bewegt, Orfeo in das Reich der Toten zu überführen.

 

Vokal mit einem samtweichen Klangschmelz gesegnet, besticht die goldene Mittellage der Sängerdarstellerin zudem mit einem tonal reifen, vollmundigen Körper.

 

Strahlkräftig, feinschimmernd und noch dazu äußerst biegsam gelingen Christina Bock auch die exponierteren Tonlagen in scheinbar unangestrengter Eleganz und mit einer nahezu duftigen Leichtigkeit, die weder Kontur noch gesangliche Fülle einbüßt.

 

Als Ehefrau des unterirdischen Herrschers gibt sie sich auch schauspielerisch versiert und scheint in der Figur der Proserpina vollends zu versinken.

 

Mehr tot als lebendig erlebt man Eurydike alias Slávka Zámečníková zumindest in den wenigen Glanzpartien ihrer Rolle höhepunktreif und gesanglich auf den Punkt.

 

©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Slávka Zámečníková singt rauschhaft, berauscht und verführt den Zuhörer schnell in eine Welt der Nymphen und Fabelwesen. Ihre sphärisch, weltentrückte Stimme, die so irisierend in die Atmosphäre entgleitet, hat sogar etwas Transzendentes, Körperloses und läuft einem butterzart den Gehörgang hinunter.

 

Unterirdisch im wahrsten Sinne des Wortes läuft der Bassist Andrea Mastroni in der charakterstarken Rolle des Pluto zu vollem Klangvolumen auf. Gewaltig, ozeanisch, abgrundtief und düster dringt sein Vokalinstrument bis ganz, ganz tief in die Hölle vor. Dabei stellen sich einem die Nackenhaare vor Erschaudern nur so auf. Der teuflische Geselle überzeugt.

 

Bleibt nur noch der Mann am orchestralen Mischpult, der sich ganz der alten Musik hingibt und sich fast schon in ihr aufzulösen scheint.

 

So jedenfalls erlebt man das Dirigat von Pablo Heras-Casado, der mit breitem, raumfüllenden Klangstrom und einer agogisch feinjustierten Dynamik Monteverdis Meisterwerk zu lebendig erquickender Strahlkraft verhilft und weit darüber hinaus sogar ein Feuerwerk emotionaler Temperaturen entfacht.

 

Warum die Musik Monteverdis den Nerv unserer Zeit wohl so gut trifft?

 

Nun, weil es ein kongeniales Team aus Regisseuren, Sängerdarstellern und Instrumentalisten samt Dirigent verstehen, wie Barock den Zeitgeist rocken kann.


©Wiener Staatsoper / Video über youtube zur Verfügung gestellt

Wie sich Regisseur, Dirigent und Sängerdarsteller zu dem kompositorischen Meisterwerk Monteverdis äußern, was es ihnen bedeutet und wie sie es interpretatorisch in die heutige Zeit transportieren, wird in der Einführungsmatinee der Wiener Staatsoper in einer knappen Stunde thematisiert. Eingeladen sind Kate Lindsay, Christina Bock, Pablo Heras-Casado uvm.


Kommentare: 0