Im Meer der Gefühle: Nadine Sierra als leidenschaftliche Violetta an der Met

07. November 2022

Rubrik Oper

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Was so ein Opernerlebnis im Kino doch oftmals für eine Freude sein kann. Die Metropolitan Opera in New York schafft es immer wieder, ihr Publikum mit Inszenierungen zu verzaubern, die in eine traumfantastische Welt entführen und sich dabei im metaphorischen Sinn tief vor den Künstlern und der Musik verbeugen.

 

Nicht aberwichtig oder gar relevanter als alles, was der Komponist mit seiner Oper musiktheatralisch zum Ausdruck bringen wollte, spielt sich Verdis La Traviata in der kostümopulenten Produktion im Belle Epoque-Stil optisch historiennah, aber hauptsächlich darstellerisch und gesanglich in den Vordergrund.

 

Dabei untermalt die Inszenierung lediglich das handlungsintensive Geschehen auf der Bühne, stärkt mit requisitenreichen Details die naheliegende Interpretation und stellt durch perfekt eingesetzte Lichtakzente den Lebenszyklus der Hauptprotagonistin Violetta in Form der Jahreszeiten dar.

 

Gleich mit der Overtüre taucht das Publikum unmittelbar in das Handlungsgeschehen ein. Bläulich kaltes Licht durchflutet einen abgedunkelten Raum, in dessen Mitte die längst verblichene Violetta auf ihrem Totenbett liegt. Um Sie herum sind die wenigen bedeutsamen Menschen versammelt, die ihren Lebensweg und ihr Schicksal entscheidend begleitet und geprägt haben. Wie zu Stein erstarrt trauern sie um die Verstorbene.

 

Dann plötzlich erwacht der Geist Violettas, erhebt sich und wandert ruhelos im Raum umher. Ungläubig blickt das Phantom in die vor Trauer erstarrten Gesichter und entschwindet sodann von der Bühne.

 

Aus der deprimierend winterlichen Sequenz, die gleich zu Beginn das Ende der Geschichte umreißt, stolpert der Zuschauer innerhalb von wenigen Sekunden in den 1. Akt einer ausgelassenen Gesellschaft, die in heitere Champagnerlaune versetzt, das pralle Leben in all seinen kunterbunten Facetten exzessiv zelebriert.

 

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Was für ein gelungener Flash-Back. Jetzt sind wir im Frühling angekommen. Alles erblüht in Opulenz. So auch das junge Leben der Kurtisane Violetta, die es gar nicht erwarten kann, von einem Ball zum nächsten zu tanzen. Die Welt scheint der lebenshungrigen Frau zu gehören, die sich in amouröse Liebschaften verstrickt, ohne dabei die Konsequenzen zu bedenken.

 

Erst als sie Alfredo über den Weg läuft, der sich vor Liebe zu Violetta verzehrt, beginnt auch Violettas Ernst des Lebens Gestalt anzunehmen. Durch die Jahreszeiten mäandernd beobachtet man den Reifeprozess der unbedarften, lebenslustigen Frau, die just in dem Moment der Sinnerfahrung spürt, dass es mit ihrem Leben zu Ende geht. Violetta ist nämlich todkrank.

 

Noch einen ruhigen, beschaulichen Sommer auf dem Land zubringend, wird das kurze Glück der Liebenden durch den unangekündigten Besuch von Alfredos Vater torpediert. Das Schicksal schlägt gnadenlos zu und erstickt die aufbegehrende Liebesbeziehung von Violetta und Alfredo im Keim.

 

Während Violetta einsam und verlassen den Herbst ihres verblassenden Lebens mit ausschweifenden Bällen zubringt, sich nahezu von ihrem negierenden Lebenshunger quälend hinfort treiben lässt, wirft bereits der herannahende Winter seine Schatten auf das noch rosige Antlitz der jungen Frau.

 

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Spätestens im letzten Akt können wir sicher sein, dass die Geschichte der Violetta keinen guten Ausgang nehmen wird. Der Winter hält unaufhaltsam Einzug und Violetta fristet ihr verbleibendes Dasein in einem Krankenbett.

 

Mit nostalgischer Ausgestaltung kann Opernregisseur Michael Mayer bei dieser wohl beliebtesten aller Opern absolut punkten. Der einfach nachvollziehbare Handlungsstrang über das Leben und den Tod, das Schicksal mit samt seiner Irrungen und Wirrungen braucht kein szenisches Alleinstellungsmerkmal und muss sich schon gar nicht in die Ultramodernität verbiegen. 

 

Auch wenn der ein oder andere Kritiker den überzogenen Vergleich zu einer Produktion à la Walt Disney ziehen mag, so bleibt die historienverliebte Inszenierung ein absoluter Hingucker und balsamiert zugleich Herz und Seele auf das reizstimulierenste.

 

Oder träumen wir uns etwa nicht alle gerne in die schillernde, rauschhafte Vergangenheit epochaler Noblesse hinfort?

 

Doch was wäre am Ende all das szenische Gold, wenn nicht die Sänger es zum Leuchten brächten?

 

Großartig besetzt, erkennt man schnell, dass die MET sich scheinbar nie wirklich lumpen lässt, wenn es um die Auswahl ihrer Sänger geht. Allen voran Nadine Sierra, die als Violetta das gesamte Bühnengeschehen bei Weitem überstrahlt.

 

Golden leuchtet ihr ausgeprägtes Mezzovoce, schillernd und von perlender Biegsamkeit verselbstständigen sich ihre feurig geschmetterten Koloraturen, die elastisch bis in die exponiertesten aller Höhen rund und ausgewogen vor sich hin schimmern und so zart und duftig verglimmen, dass einem dabei sofort eine angenehme Wärme durchflutet.

 

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Die Frau hat Klasse, Temperament und emotionalen Tiefgang. Während sich La Sierra noch im ersten Akt der leichteren Gefühle koloraturexplosiven Raum verschafft, sich gesanglich expressiv immer wieder sphärische Räume erobert und ihre vokalen Grenzen einfach unendlich scheinen, bahnt sich die gesanglich gesättigtere, deutlich konturiertere Ausdruckskraft just im zweiten Akt ihren Weg in die vokalathletische Umlaufbahn.

 

Die sprudelnde Leichtigkeit in den Spitzentönen, die quirlig überdrehten Höhenflüge im Soubrettieren weichen einer raumfüllenden Mittellage, die nun kaum noch mit der akrobatischen Exzellenz der Koloraturen kokettieren kann.

 

Jetzt zeigt sich, inwieweit Nadine Sierra ihrer Stimme Tiefe, Substanz und Emotion verleihen und sich dabei so weit aus dem dramaturgischen Fenster lehnen kann, ohne dabei Glaubwürdigkeit gegen Lächerlichkeit einzutauschen. Nadine Sierra wagt sehr viel und gewinnt sehr viel, denn ihre geballte emotionale Vielschichtigkeit trifft auf ein so herzerweichendes Timbre, dass man nahezu hypnotisiert an ihren Lippen hängen bleibt.

 

Ebenso berührt und zutiefst gerührt ist man, wenn die Sängerdarstellerin im ariosen Gebet leise ein paar Tränen abdrückt und dabei ihrer Stimme erstaunlicherweise immer noch Herr bleibt. Unvorstellbar, welch emotionaler Kraftakt diese ausgeprägt ekstatische Charakterdarstellung vokal, mental und physisch für die Sängerin bedeuten muss.

 

So ist Nadine Sierra beim Schlussapplaus in ihrer Rolle immer noch so gefangen, dass man ihre Bewegtheit förmlich nachspüren kann. Ach, wie schön die Oper doch ist!

 

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Luca Salsi, der den Vater Alfredos spielt, überzeugt mit seinem tiefdunklen, sonoren Bariton. Wuchtig und von ozeanischer Tiefe kommt man um das Gefühl nicht umhin, dass bereits die Ansätze eines Bassisten im Stimmmaterial des Italieners verankert sind.

 

Mit durchdringender, scharf konturierter Expressivität verschmelzen Gesang und Schauspiel zu einer authentischen vokalemotional ausgeloteten Textur.  Den strengen Patriarchen, den im Kern weichen, besorgten und herzensguten Vater, nimmt man Luca Salsi in der Rolle des Germont in jeder Hinsicht ab.

 

Nicht nur die polternd lauten Facetten, auch die leisen Piani, die samtenen Legati kommen differenziert zum Einsatz. Letztere erheben sich podestgleich in der Arie “Di provenza il mar".

 

Ein wenig abseits vom darstellerischen Schuss erlebt man Stephen Costello in der Rolle des Alfredo. Weder Fisch noch Fleisch weiß man im ersten Akt nicht so recht, in welche Schublade man den leidenschaftlich Verliebten stecken soll. Eher ungelenk, steif und recht aktionsarm wirkt das werbende Liebesgeplänkel des Tenors.

 

Erst im zweiten Akt nimmt der US-amerikanische Sänger an Fahrt auf, offenbart sein verhaltenes Temperament und erzürnt im Streit mit Violetta sehr überzeugend. Gesanglich gibt es an diesem Abend nichts auszusetzen. Stephen Costello strahlt tenoral brillant und mit Verve. Seine Stimme fließt angenehm farbenreich und klangschön in das Auditorium, ohne sich jemals zu erschöpfen.

 

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

©Marty Sohl / Metropolitan Opera New York

Orchestral meisterhaft gestaltet sich das Dirigat von Daniele Callegari. Emotionale Temperaturen, alle nur erdenklichen Aggregatzustände des Lebens werden musikalisch in vollendeter Parametrik bedient. Dynamische Expressivität, rhythmisches Temperament, melodische Sensibilität: Verdis Meisterwerk ist ein tonales Kaleidoskop menschlicher Gefühle.

 

Eine Traviata wie sie besser nicht sein könnte. Bravissimo!


©Metropolitan Opera New York

Herrlich, wenn man Nadine Sierra beim Koloraturfeuerwerk zuhören darf. An ihrer Seite der US-amerikanische Tenor Stephen Costello, der als Alfredo erst im 2. Akt so richtig auftaut.

 

©Metropolitan Opera New York

Unlängst in tieferen Gewässern angelangt, erlebt man eine Nadine Sierra emotionale Vielschichtigkeit an den Tag legen. Koloraturen weichen einer klar strukturierten Melodieführung, die nun nach Tiefe, Ausdruck und stimmlicher Kontur verlangt.


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