HInreißend emotionsgeladene La Bohème mit Charles Castronovo an der Bayerischen Staatsoper

28. Juli 2022

Rubrik Oper

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Schwülschwülstige 29 Grad machen die winterliche Inszenierung des Allzeit-Opernklassikers La Bohème nicht gerade überzeugend. Während draußen hochsommerliche Temperaturen auf einen eisgekühlten Drink irgendwo auf einer Dachterrasse einladen, lassen sich die Rollendarsteller an der Bayerischen Staatsoper in ihrer bohemischen Bühnenwelt unterm Dachgeschoss eines Pariser Wohnhauses vor Kälte bibbernd zusammengekauert vor einem Holzofen nieder.

 

Die steifen Glieder aufwärmend, erlebt man die apokalyptische Zukunftsmusik, die uns demnächst selbst ereilen könnte. Wo kein Gas, da keine Wärme.

 

Immerhin schwitzen wir uns in diesem hitzeschlagverdächtigen Sommer gerade noch die Poren rein, während uns Puccinis episches Meisterwerk von den ärmlichen Verhältnissen einer Studentengemeinschaft erzählt, die das Leben lebt, so wie es kommt und in dem die Liebe als einziger wärmender Strohhalm herhält, an den sich der über beide Ohren verliebte Rodolfo krampfhaft klammert.

 

Ob der Zuschauer imstande ist, Parallelen zur aktuellen wirtschaftspolitischen Lage zu ziehen, sei dahingestellt. Dass Puccinis Oper La Bohème  allerdings mehr denn je auf eine aktuell prekäre sozialgesellschaftliche Brisanz hinweist, scheint aber vielmehr reiner Zufall zu sein, so es denn Zufälle gibt!

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Doch das leise Unbehagen, im nicht so fernen Winter erbärmlich frierend in den eigenen vier Wänden zu sitzen und sich in eine Zeit zurückkatapultiert zu wähnen, die doch mit unserem vermeintlichen Fortschritt so rein gar nichts gemein hat, lässt das Gedankenkarussell heiß laufen.

 

Zurück in die primitive Vergangenheit. Otto Schenks herzallerliebstes Puppenhausidyll trügt unbeabsichtigterweise wohlgemerkt, denn die märchenhafte Inszenierung, die einen mit so viel Liebe zum Detail, requisitenreich und kostümopulent in Nostalgie schwelgen lässt, öffnet Tor und Türen für allerlei interpretatorische Weltuntergangsszenarien.

 

Aber nein. So schlimm ist es denn doch noch nicht, zumal man sein Herz an die historischen Kulissen des pittoresken Paris um die Jahrhundertwende im Nu verliert.

 

Und nicht nur an das ästhetisch anmutende Bühnenbild, sondern gleichermaßen an die besonders herausragenden Sängerinterpreten, die das Werk mit hinreißend emotionsgeladener Darstellungskunst zum Leben erwecken.

 

In der Rolle des Rodolfo brilliert der US-Amerikanische Tenor Charles Castronovo mit emotionaler Tiefe und einer tenoralen Strahlkraft, die vor leidenschaftlicher Verve fast schon inniglich erglüht.

 

Stellenweise wird einem heiß, manchmal sogar kalt, wenn man Charles Castronovo beim Singen zuhört. Mit stimmlich eleganter Noblesse, einer sprühenden Lebendigkeit und einem zartschimmernden Timbre, dass die angenehmsten und facettenreichsten Töne produziert, erobert sich der temperamentvolle Rodolfo seine Mimi quasi im Sturm.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

In "Che gelida manina", wirbt der Barde mit den sizilianisch-ecuadorianischen Wurzeln mit charismatisch vokaler Ausdauer, stentoraler Kraft und rolleninterpretatorischer Versiertheit um seine Herzallerliebste, als gebe es kein Morgen.

 

Überzeugend mimt er den zerrissenen Schriftsteller der brotlosen Kunst, der sich Hals über Kopf in das zarte Wesen Mimi verliebt.

 

Als die Geliebte gen Ende des dritten Aktes in den Armen des trauernden Rodolfo verstirbt, verändert sich plötzlich die Luft im Auditorium. Ein gewaltiger Gefühlsausbruch, so monumental wie ein zerberstender Urschrei durchdringt die morbide Stille.

 

Packend wie kein Krimi sein kann, stürzt sich Castronovo in schierer Verzweiflung auf seine verblichene, leblose Schönheit und singt sich weinend die Seele aus dem Leib. Unglaublich wie inniglich, wie von tiefen Emotionen geschüttelt dieser Mann auf der Bühne agieren kann.

 

Kontrollierte Ekstase ist nichts gegen das grenzensprengende Feuerwerk gesanglicher und schauspielerischer Ausdruckskraft, die dem Publikum an diesem unvergesslichen Abend zuteilwird. Nie gab es in den letzten Jahren eine La Bohème, die ihre Zuschauer so eindrücklich und vereinnahmend in den Bann gezogen hat, Charles Castronovo sei Dank.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Aber auch Mimi alias Ailyn Pérez überzeugt auf ganzer Linie mit einem jugendlich frischen Sopran. Fast mädchenhaft, leicht und duftig und mit kaum vernehmbarem Vibrato erstrahlt die hellgoldene Stimme über alle Register klangschön in den Orbit des Auditoriums.

 

Naiv und ach so zuckersüß erklingen die manchmal sehr zarten, schnörkellosen Tönchen und unterstreichen den Liebreiz der schüchternen und unschuldigen Mimi.

 

Wohl kaum eine andere Rolleninterpretin scheint sich diesen Charakter so auf den Leib geschneidert und verinnerlicht zu haben wie eben Ailyn Pérez.

 

Im gemeinsamen Duett mit Charles Castronovo zu "O soave fanciulla" stehen die beiden Sängerdarsteller vokal alsbald in voller Blüte. Klangsatt und üppig wie eine Blumenwiese, so verzaubernd und irisierend verschmelzen Tenor und Sopran zu einer vokal harmonischen Textur.

 

Und auch das Sterben könnte nicht schöner sein, wenn man das musikalische Ableben der Mimi so intensiv und sphärisch erleben darf, wie just in dieser legendären Produktion.

 

©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper

Herrlich gestaltet sich auch die Interpretation der Musetta. Aida Garifullina, die das Rasseweibchen, die krallenausfahrende Diva mit dem butterweichen Herzen so außerordentlich authentisch personifiziert, punktet ebenfalls mit ihren koloratursicheren Achterbahnfahrten. Biegsam, wendig und spitzentonaffin gelingen ausgeklügelte Läufe ebenso wie die affektierten Gebaren der schauspielernden Gesangsakrobatin.

 

Kaum erlebt man an diesem Abend irgendeinen Sängerdarsteller, der nicht perfekt in seine Rolle passt.

 

Und so erlebt man auch den Bariton Mattia Olivieri in einer Paraderolle des studentischen Helden Marcello, der an der Seite seines Freundes Rodolfo kokettierend mit der komplizierten und durchaus anstrengenden Musetta anbändelt.

 

Jugendlich strahlend klingt sein strömend reiner Bariton mit hellem Timbre ausdauernd durch den Abend.

 

Bleibt nur noch das Orchester unter der Leitung von Francesco Lanzillotta, das umsichtig und auf einem fein nuancierten Klangteppich instrumental durch alle drei Akte der epischen Oper mäandert. Nanosekunden zu langsam erscheint mir das Dirigat. Aber vielleicht entspringt die Langsamkeit auch nur meiner musikalischen Einbildungskraft, die meint, genau diese La Bohème schon einmal etwas flotter gehört zu haben.