14. Dezember 2021
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Utopie und Dystopie! In Mozarts Neuinszenierung des Da Ponte-Klassikers Don Giovanni an der Wiener Staatsoper spannt sich der Bogen aus purer Wollust und erotischer Völlerei weit bis in die erschütternd amoralischen, tief soziopatischen Abgründe des Einzelnen und der Gesellschaft.
Don Giovanni, der mehr als es ein Schwerenöter sein kann, die Frauen gnadenlos verschlingt - so wie der Teufel die Menschenseelen - giert mit jeder neuen Eroberung nach noch mehr körperlicher und seelischer Befriedigung.
Die Lust am frauenkonsumierenden Wahnsinn umnebelt den Geist des leichtfüßigen Edelmanns, der gleich zu Beginn der Opera buffa einen Funken narzisstischer Zerstörungswut in sich trägt.
Als wahrhafter Antichrist lebt Don Giovanni ohne jegliche Moralvorstellung seinen sexuellen Trieb, seine Lust nach dem prallen Leben und nach den in seiner Vorstellung unerschöpflichen Überkonsum an Frauen rücksichtslos aus.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Die Utopie eines übererfüllten Lebens, die Überhöhung des menschlichen Seins als solches schaukelt sich im Verlauf der zweiaktigen Opera buffa immer wieder in einen unermesslichen Höhenrausch, schwankt, gerät aus dem Gleichgewicht und stürzt zu guter Letzt in die bodenlose Leere.
Aus der utopischen Idealwelt Don Giovannis wird nunmehr ein dystopischer Albtraum, aus dem der Liebessüchtige nicht mehr erwacht.
Mit seinem Tod scheinen die Sünden, das ausufernd bigotte Leben des vermeintlichen Edelmannes gesühnt. Doch das sein Wirken und Handeln die exakte Spiegelung eines gesellschaftlichen Psychogramms darstellt, fällt am Schluss der Verleugnung und der Doppelmoral einer extrem dogmatisierten Gesellschaft zum Opfer.
Barry Kosky zeichnet mit seiner nachtschwarzen Inszenierung ein warnendes Bild einer verklärt lasterhaften Gesellschaft, durch die das Kondensat der menschlichen Schwächen, Untugenden und exzessiven Leidenschaften destilliert wird.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
So erleben wir die besagte Wollust, die ausufernde Völlerei, den Kontrollverlust, den Zorn und auch den Hochmut, die sich alle mal mehr, mal weniger in den verschiedenen Charakteren der Protagonisten verselbstständigen.
Unfrei von den Todsünden, die sie begehen, getriggert allein durch ihre körperlichen und geistig fehlgeleiteten Versuchungen, erblindet das Bewusstsein der Hauptakteure für die eigene Selbsterkenntnis, die menschlichen Verfehlungen, Irrtümer und gesunden Moralvorstellungen.
In einer unwirtlichen Felsenlandschaft, die weder Licht noch Leben kennt und einer extraterrestrialen Daseinsform ähnelt, malt Kosky ein Portrait der irren Realität des Don Giovanni, der seine Liebschaften und die wutentbrannten Rächer seiner Sünden wie eine stabstreue Heerschar um sich scharrt.
Dem Regisseur gelingt mit seiner Inszenierung, die in der Verlorenheit der Nacht die allumfassende seelische Düsternis konturiert zum Vorschein bringt, ein polarisierendes Gesellschaftsdrama höchster Güte.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Mit einer brillanten Cast zieht einen die Eigenart dieser komischen Oper mit dramatischen Anklängen von der ersten Sekunde an in einen elektrisierenden Bann.
Ausbalanciert erlebt man alle Sängerdarsteller in einander ebenbürtiger vokalathletischer Hochform.
Kyle Ketelsen, der sich als toxischer Wüstling Don Giovanni nicht nur gesanglich, sondern ganz besonders darstellerisch überzeugend in Szene setzt, moduliert je nach Bedarf seine stimmlichen Facetten.
So tanzt er sängerisch jedes Mal nach einer anderen Pfeife, je nachdem, welche Dame er gerade verführt. Komisch wirkt er nur in der Szene, in der er sich für seinen Diener Leporello ausgibt. Doch auch diese Facette füllt er darstellerisch versiert aus.
Die zarte Donna Anna, die von Rachegelüsten geplagt ist, erfährt durch die Sopranistin Hanna-Elisabeth Müller ein erfrischend jugendliches Make-over.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Feinperlend klar und mit einem unaufdringlichen Vibrato wirkt die leicht durchlässige Sopranstimme lyrisch reizvoll und überzeugt im leidenschaftlichen Ausdruck mit einem ebenso druchdringenden, kraftvollen Fortissimo.
Kate Lindsey als Donna Elvira zeigt hingegen, wie Frau ihre Krallen ausfahren muss, um sich im Kampf um das männliche Geschlecht zu behaupten.
Eifersucht ist ihr Motte und das stimmlich extrem intravenös, denn Lindseys warm timbrierter Mezzosopran geht direkt unter die Haut in die Blutbahn, was man gleichermaßen von der jugendlich kraftvollen und sehr ausdrucksstarken Stimme der österreichischen Mezzosopranistin Patricia Nolz behaupten kann.
In der Rolle der quirlig übermütigen Zerlina braucht es hingegen keine Krallen, um auf Männerfang zu gehen. Zerline wird erobert, geliebt und gleich von zwei Männern begehrt: Masetto und Don Giovanni.
Verführisch, neckisch und von einer liebreizenden Bodenständigkeit darstellerisch überzeugend, erlebt man auch das Vokalinstrument der Interpretin klangsatt, koloratursicher und wohl austariert in der angenehm timbrierten Mittellage und den fein geschliffenen Höhen.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Gesangstechnisch versiert und auf der Höhe der Perfektion sticht ganz besonders der tenorale Feingesang des französischen Sängerdarstellers Stanislav de Barbeyrac heraus.
Als Don Ottavio und Geliebter der liebreizenden Donna Anna werden gesangliche Höhenflüge zu absoluten Hochgenüssen für alle Sinne. Der helle, astralreine Tenor hält auf ganzer Linie, was man von einem herausragenden Tenor erwartet.
Kraftvoll auf den Punkt phrasiert und dennoch mit einer jugendlichen Strahlkraft, insbesondere in den exponierten Tonalhöhen, kommt der erfrischende Schöngesang scheinbar an keine vokaltechnischen Grenzen. Mit ruhiger Stimmführung gleitet jeder Ton ganz gelassen in sphärische Gefilde.
Und auch die bassbaritonalen Partien des Leporello und Masetto sind sowohl gesanglich als auch charakterlich höchst anspruchsvolle Paraderollen, die durch Philippe Sly und Peter Kellner in absoluter Formvollendung ausgestaltet werden.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Ungewöhnlich für eine "komische Oper" zeigt sich bereits mit der Ouvertüre der orchestral düster dramatische Charakter der Komposition Wolfgang Amadeus Mozarts.
In d-Moll vertont, erahnt man, dass dem Werk diabolische Züge anbeiwohnen. Tatsächlich kristallisieren sich diese aus dem Charakter des leichtfüßigen Don Giovanni im Verlauf der zweiaktigen Opera buffa heraus, die sowohl dramatische als auch komische Elemente miteinander vereint.
Mit raffiniertem Dirigat eröffnet Philip Jordan eines der meistgespielten und beliebtesten Opernwerke der Welt und bildet mit einer verdichteten Klangintensität einen musikalisch stabilen Rahmen für den spannungsgeladenen Handlungsstrang auf der Bühne.
Konturiert, dabei immer leicht und duftig steigert sich das umsichtige Dirigat, das mal mit verspielt mozartesquen Kapriolen gewinnt, mal dynamisch getragen in die Abgründe der Moll-Tonart vordringt, klangexplosiv in die ausufernde Dramatik des Werks, dass von der Utopie geleitet im Unwesen der Dystopie ausartet.
Orchestral perfekt auf den Punkt gebracht, fühlt man den gegenwärtigen Zeitgeist in Mozarts genialem Werk verhaftet, das vielleicht sogar schon vor 250 Jahren seiner Zeit weit voraus war.
©Wiener Staatsoper / über yoututbe zur Verfügung gestellt
In der Einführungsmatinee der Wiener Staatsoper nehmen Hauptdarsteller, Dirigent, Regisseur und Intendant Stellung zu der szenischen und dramaturgischen Neuinszenierung des Don Giovanni.
Dabei führt ein offener Diskurs zu erkenntnisreichen Rückschlüssen auf das Werk, den musikalischen Handlungsrahmen und die Interpretation als solche.