Neuinszenierung: parsifal mit jonas kaufman und Elīna Garanča an der wiener staatsoper

AUFREGEND, KONTROVERS UND SO ERFRISCHEND PRICKELND

20. April 2021

UNAUFGEFORDERTE WERBUNG

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Wagners Meisterwerk Parsifal, das sich in einer fulminanten Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper als aufregender, sündiger und zum Teil verstörend spannungsgeladener Befreiungsthriller entpuppt, sorgt für provokativ frischen Wind mit tiefenpsychologischer Strahlkraft.

 

In die Moderne katapultiert zeichnet der in Bewährungshaft befindliche Regisseur Kirill Serebennikow verantwortlich für die polarisierende Inszenierung, die Parsifal aus der Mottenkiste eines religionsphilosophischen Bühnenweihfestspiels hervorholt und auf das Podest menschlicher Verfehlungen stellt, immer in Wechselwirkung mit der Frage nach den theologischen Tugenden.

 

Dabei spielen Glaube, Liebe und Hoffnung, die spirituellen Säulen des Lebens, eine übergeordnete Rolle und bilden die Kernbotschaft der musikalischen Erzählung, die sich untypischerweise zwischen kahlen Gefängnismauern hinter kalten Gitterstäben wiederfindet.

 

Mit kinematografischen Sequenzen versetzt, vermengen sich Nahaufnahmen von düster dreinschauenden Gefangenen, religiösen Symbolen, Landschaftsaufnahmen und dem immer wiederkehrenden Bild einer orthodoxen Kirche mit dem aktiven Handlungsgeschehen auf der Bühne.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Schnell wird deutlich, dass die Gralsgemeinschaft durch die Inhaftierten symbolisiert wird, die gefangen in ihren unverrückbaren Wertvorstellungen und Ritualen unfrei geworden sind.

 

Im Doppelpack erleben wir die Titelpartie des Parsifals als junge und alte Version. Letztere verkörpert durch den Münchner Tenor Jonas Kaufmann, der in den ersten beiden Akten durch die Retrospektive auf sein junges Ich blickt.

 

Seine Lebensreise lässt er in seinen Erinnerungen Revue passieren, mal mittendrin im Geschehen der Vergangenheit, mal als kritisch eingreifender Beobachter von Außen, aber stets präsent, auch wenn die aktiv gespielte, nicht gesungene Rolle primär von seinem Alter-Ego Nikolay Sidorenko darstellerisch perfekt ausgefüllt wird und dabei den langatmigen orchestralen Passagen einen erzählerisch unterfütterten Charakter verleiht.

 

Mörderisch, brutal, blutrünstig und nichts für schwache Nerven ist die komplett modifizierte Szene mit dem Schwan. Ein Mitinsasse wird kaltblütig hingerichtet, als er sich Parsifal sexuell nähert. Blut spritzt in alle Richtungen. In dieser Inszenierung wird auf allen Ebenen mit der mystifizierenden Verklärung des Originals gebrochen.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Kontrastiert nur durch den schillernden Kosmos einer Moderedaktion im 2. Akt, der dem sinnentleerten Gefängnisleben als andersartige, aber ähnlich unfreie Welt gegenübersteht, werden die Blumenmädchen zu stilettotragende Modepüppchen degradiert, die den jungen Parsifal bezirzen, umgarnen und neu ausstaffieren.

 

Dass der dann komplett blank zieht, mit prallem Popo zum Publikum gewandt, gibt der Inszenierung einen sündig erotischen Twist und wird nur noch von dem hemmungslosen Herumgeknutsche der Femme fatale Sirene Kundry getoppt. Das soll also der Kuss der Erkenntnis sein? Aber hallo! Und wie!

 

Mit lippenstiftverschmierten Mündern schraubt sich der 2. Akt in weitere ekstatische Schlüsselszenen hoch. Viel nackte Haut blitzt hervor, flirtive Erotik sprüht im leicht entzündbaren Funkenschlag und eine übersteigerte, obgleich sehr gefühlsechte Dramatik kulminiert letztendlich in einer zornigen Affekthandlung der Kundry, die eine Waffe zückt und mehrere Schüsse auf Klingsor abfeuert.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Mit weniger dramatischer Leidenschaft gespickt, dafür aber umso gefühlsbetonter und musikalisch sphärischer, gestaltet sich der letzte Akt, in dem auch Kaufmann endlich in der Gegenwart angekommen, seiner Beobachterrolle entschlüpft und als Erlöser auf der Bildfläche erscheint.

 

Mit Blumen und Kerzen überhäuft, wird der alternde Parsifal plötzlich heilig gesprochen. Als Befreiungsritter sprengt er die inneren Schranken und die limitierenden Glaubenssätze des Amfortas, der Kundry und der Gralsgemeinschaft. Alle sind sie nun befreit, frei und ebenfalls erlöst.

 

Und plötzlich ward auch die Wunde des Amfortas geheilt, die Sehnsucht der Kundry nach Liebe gestillt, das Wertesystem der Gralsgemeinschaft gesundet, dem Sinn des Daseins Leben eingehaucht.

 

"Öffnet den Gral, öffnet den Schrein!"

 

Als Kaufmann und sein jüngeres Alter-Ego jede einzelne Tür der vielen leer stehenden Gefängniszellen öffnen, versinnbildlicht und verselbstständigt sich der Freiheitsgedanke, der keine Grenzen, Schranken oder sonstige Hindernisse mehr kennt. Nur der Mensch hat die Macht, als Verwalter seiner eigenen Glaubenssätze, einengende und limitierende Gedanken zu steuern, zu regulieren und zu guter Letzt eigenmächtig auszuhebeln.

 

Für die echte, wahrhaft erlösende Freiheit aus den eigenen Zwängen heraus braucht es nur die Erkenntnis und den Mut, das Tor zur Seele weit zu öffnen und sich auf den Glauben, die Liebe und die Hoffnung, unvoreingenommen und selbstlos einzulassen, ganz im Vertrauen auf das Universum.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Mit einer großartigen Cast, die alles Vorstellbare an Sangeskunst übertrifft, überzeugt in erster Linie Guernemanz, der von Georg Zeppenfeld gespielt den Löwenanteil des dreiaktigen Bühnenweihfestes stemmt.

 

Stimmlich souverän und von ausgeprägter Vokalkraft führt der technisch wohl austarierte, tiefenentspannte Bass angenehm klingend durch den Abend.

 

In ihrem Debüt als Kundry überstrahlt die Mezzosopranistin Elīna Garanča ganz klar die vokalathletische Manege des tonalen Olymps. Sehr präzise auf den Punkt gebracht und zudem gesegnet mit einer emotionalen Leidenschaft, spannt die lettische Mezzosopranistin ein irisierendes Netz aus gesanglich durchfärbter Vielschichtigkeit. In den Tiefen betörend zart und in den schillernden Höhen von einer brillanten Strahlkraft durchdrungen, zeugt ihre Stimme von einer angenehm warmen und ausbalancierten Klangfarbe.

 

Man kann Elīna Garanča zu dieser grandiosen musikalischen Leistung und ganz besonders zu ihrer schauspielerischen Darbietung gratulieren, für die sie sich beinahe schon oscarreife Lorbeeren verdient hat. Mimisch synchron mit der Emotionalität der Musik, akzentuiert ihr schauspielerischer Ausdruck gekonnt die ganze Bandbreite an Leidenschaft, Dramatik, Verzweiflung, Zorn und liebestrunkener Entrücktheit.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

In einer ungewöhnlichen Doppelrolle, die Jonas Kaufmann ein schauspielerisch hohes Niveau abverlangt, bewegt sich der deutsche Tenor parkettsicher auf dem überwiegend passiven Glatteis der Beobachterrolle.

 

Mit einer unglaublichen, unter die Haut gehenden Intensität verfolgt man gebannt das Aufeinandertreffen des jungen und alten Parsifals. Die Luft ist bis zum Anschlag geladen, elektrisierend der Augenkontakt und die im Raum schwebenden angedeuteten Berührungen zwischen Parsifal und seinem jungen Alter-Ego.

 

Überzeugend durch und durch wird das sich symbiotisch befruchtende Rollenspiel der beiden Protagonisten zu einem formvollendeten darstellerischen Hochgenuss.

 

Gesanglich unangefochten setzt Kaufmann die Latte immer wieder so hoch an, dass man gebannt der tonalen Akrobatik seiner Stimme lauscht.

 

Auch wenn der ganze tenorale Zauber in Summe gerade mal 30 Minuten (und das bei einer Spielzeit von satten viereinhalb Stunden) dauert, das Werk sowieso Gurnemanz statt Parsifal heißen sollte, genießt man den warmgoldenen Klangschmelz, die absolute Ausdruckskraft und den klangsatten Vokalkolorit Kaufmanns.

 

©Michael Pöhn /Wiener Staatsoper

Ludovic Tézier, der als Amfortas nahezu verrückt geworden an seiner ewig blutenden Wunde herumnestelt, ist stimmlich ebenfalls in Höchstform. Der ansonsten eher gediegene, unbemüht wirkende Bariton läuft in der Rolle des verwundeten Gralsritter erfrischend temperamentvoll zur Höchstform auf. Téziers Diktion ist dabei so perfekt und akkurat, dass seine Stimme deutlich gewaltiger und dunkler erscheint.

 

Orchestral auf einem Teppich aus magisch entrückten, nahezu transzendenten Klängen gebettet, erlebt man eine Tonkunst in verdichteter Vollendung.

 

Wagner verstand es, in seinem christlich angehauchten Werk mehrere Leitmotive so präzise miteinander zu verweben, dass die Musik aus einem einzigen Guss erscheinend, förmlich in der Atmosphäre zu schweben scheint.

 

Erfüllt von einem klar konturierten, obgleich weichen, anschmiegsamen Klang, der sich in mystischen Tonalwelten zu verselbstständigen scheint, gelingt Philippe Jordan in seinem Dirigat eine gelungene, meisterhafte Interpretation der rätselhaften und letzten Oper Wagners.


©Marcia M. über youtube zur Verfügung gestellt

In einem Interview mit Teresa Vogl lässt Jonas Kaufmann uns Einblicke in die Neuinszenierung des Parsifal gewähren. Dabei thematisiert er die Bedeutung der Rolle, die er über die Jahre ausgefüllt und in verschiedensten Inszenierungen verkörpert hat und an der er offensichtlich mit zunehmender Reife gewachsen ist.

Als Macher, aktiv und präsent auf der Bühne, fühlt er sich in der Doppelrolle, die er sich mit seinem Schauspielerkollegen Nikolay Sidorenko teilen muss, nur bedingt wohl, da sich Passivität auf der Bühne nur schwer spielen lässt.

Der Erlösungsgedanke als besonderes Momentum der Geschichte Parsifals erlebt Kaufmann als eine musikalisch transzendente Erfahrung, die so magisch, klar und verdichtet daherkommt, dass man dem Erlösungsgedanken hingebungsvoll verfällt.

 

©Marcia M. über youtube zur Verfügung gestellt

Sängerin aus Zufall: So nahm der Werdegang der lettischen Mezzosopranistin seinen Lauf. Sich in vielen Bereichen ausprobierend, angefangen mit der Schriftstellerei, dem Verkauf von Möbeln bis hin zur Schauspielerei kristallisierte sich relativ schnell heraus, dass das Schicksal ihr eine Karriere als Sängerin vorbestimmt hatte.

 

In der Rolle als Kundry, die neues Terrain für Garanča darstellt, zeigt die Lettin gemeinsam im Team, wie dieser undefinierbare Charakter, der wenig fassbar, aber sehr formbar und interpretatorisch vielschichtig ist, in dieser polarisierenden Neuinszenierung zum Leben erweckt werden kann.

 

©Wiener Staatsoper über youtube zur Verfügung gestellt

Auf www.arteconcert.de ist die Neuinszenierung des Parsifal noch bis einschließlich 17. Juli 2021 kostenfrei abrufbar.


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