19. Dezember 2021
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Operette, Spieloper oder doch ganz Oper? Franz Léhars letztes Operettenwerk Giuditta sorgte bereits zur Uraufführung im Jahr 1934 für erheblichen Wirbel, denn die nicht klar definierbare Musikgattung führte schon damals ein Zwitterdasein zwischen ernsthafter Oper und komödiantischer Operette.
Am 18. Dezember 2021 nimmt sich der Regisseur Christoph Marthaler in einer aufgefächerten Neufassung des schwankenden Musiktheaters an.
So zumindest tituliert er seine musikalische Mixtur, die zwischen den Gattungen der Oper, der Operette, des Schauspiels sowie unterschiedlicher emotionaler Aggregatzustände und exotischer geografischer Schauplätze angesiedelt ist.
Dass sich dabei große Orchestrierungen mit Schlagermelodien vereinen, erscheint auf den ersten Hörversuch gewöhnungsbedürftig.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Darf die Operette musikalisch so verzerrt, so demontiert und gar in ihrem Charakter verfremdet werden, dass sie nicht mehr nach dem Original klingt?
Marthaler sieht das anders.
Eine Operette, die im Kern des musikthematischen Grundgedankens seit jeher keine reine Operette war, erhält nun die dramaturgische und musikcharakteristische Würze und Raffinesse, die es braucht, um das ernsthafte Kondensat aus der Masse der leichten Muse herauszudestillieren und der Gattungsumwandlung hin zur wahrhaften Oper auf die Sprünge zu helfen.
Zeitgenössische Komponisten aus der Operettenära, die hingegen ihre tonale Berufung ganz und gar in der Neuen Musik fanden, sich also in ihrem Schaffen der freien Atonalität sowie der
Zwölftonmusik hingaben, sollen sich nun in Marthalers Neuinterpretation mit der frivolen, leichten und harmonisch satten Operette vermischen.
E- und U- Musik auf du und du?
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Kann das gut gehen, wenn zwei so konträre Musikströmungen plötzlich interdisziplinär hart aufeinanderprallen?
Während das Liedrepertoire des Hauptprotagonisten Octavio komplett in der Originalfassung der ursprünglichen Operette verhaftet bleibt, wird der Charakter der Giuditta um die Musik Schönbergs, Bartóks und Bergs so weit aufgespaltet, dass sie mehr Schliff und Brillanz erfährt und dadurch auch in ihrem dramaturgischen Rollenprofil deutlich an Substanz gewinnt.
Léhars Meisterwerk Giuditta fällt somit einer kontrastreichen Musikwäsche zum Opfer, nach der sich entweder die vielen bunten Stilfacetten zu einem tonal unästhetischen Genrebrei vermengen oder
aber ein durchaus klangvoller, tonal ästhetischer neuer Genremix entsteht, der das letzte Werk des Operettenkönigs endlich auf das Podest einer ernst zu nehmenden Spieloper erhebt.
Vielleicht braucht die Operette aber auch einen komplett neuen, erfrischend musikalischen Anstrich, damit der zuckersüße Klangsirup längst vergangener Tage nicht so unangenehm im Gehörgang kleben
bleibt?
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Oder ist das ganze Projekt nur ein verzweifelter Versuch, dem verschmähten Operettengenre zu der Anerkennung zu verhelfen, dessen es sich seit mehreren Jahrzehnten nicht mehr erfreut?
Unglaubliche 120 Radioanstalten sendeten die Uraufführung von Léhars Giuditta in die Welt.
Wie viele Radiosender werden sich so sensationslüstern für dieses gewagte, gegenwärtig zukunftsweisende Musikexperiment Marthalers begeistern?
Fragen über Fragen. Und die Antworten, ja, die eigentlichen und uneigentlichen Reaktionen des Publikums bleiben abzuwarten.
Doch welches Publikum wird sich nun für die ernstere, operesque Giuditta erwärmen können?
Opernpuristen verschmähen in den meisten Fällen die leichtere Muse, die scheinbar wenig Tiefgang, eher frivol, kaum ernst und gefühlt tatsächlich banal daherkommt.
Dabei ist die satirenreiche Operette mit ihren stichelnden Spitzen und dem so amüsant gesellschaftskritischen Unterton doch eigentlich extrem alltagstauglich.
©Wilfried Hösl / Bayerische Staatsoper
Der Tenor Daniel Behle ist davon überzeugt, dass diese faszinierende Collage aus E- und U-Musik ganz wunderbar funktioniert.
Gut geölt wie ein Räderwerk greifen die Collagenschrauben sogar passgenau ineinander, gerade weil dadurch den gehörgängigeren Operettenstücken eine Aufwertung, eine Überhöhung, eine kristallklare Kontur zuteilwird und sie ganz plötzlich sogar zum besonderen Alleinstellungsmerkmal avancieren.
Sie stechen schlicht und ergreifend noch mehr aus dem süffigen Melodiensammelsurium heraus, als dass sie wie süße Rosinen im Kaiserschmarrn der melodiösen Gefühlsduseleien ertränkt werden.
Nicht mehr so viel harmoniesüßer Zucker, nur gerade so viel, dass er nicht zwischen den Zähnen knirscht oder gar in den Zahnspitzen unangenehm an Nervenenden zieht.
Als würde man bei einer Operette jemals einem exzessiven Zuckerrausch erliegen!
Oh doch! Operette kann manch einem auch zu viel Walzerseligkeit, zu viel Dreivierteltaktumdrehung, zu viel erotisches Geplänkel und überhaupt zu viel überdimensionierter Kitsch sein.
Die Frage ist nur: Wird Christoph Marthaler der schwindelerregende Drahtseilakt zwischen den so konträren Musikgenres gelingen. Wird er sie zu einer stilistischen, klangharmonischen und
dramaturgisch runden Einheit zusammenschweißen können?
Und wenn ja, was bedeutet das im Umkehrschluss für die Operette?
Erleben wir dann just am 18. Dezember an der Bayerischen Staatsoper ein Revival, ein neu anbrechendes Zeitalter der Operette, die sich dann nur noch Spieloper im neuen operndivenhaften Gewand
nennen wird?
©Bayerische Staatsoper / über youtube zur Verfügung gestellt
Freunde, das Leben ist lebenswert! Der Regisseur Christoph Marthaler ist davon überzeugt, dass dieser Satz bis zu zwanzig Mal wiederholt werden sollte. Mindestens!
Was er sich sonst noch bei dieser höchst gewagten Collage aus Operette und Neuer Musik gedacht hat, erzählt er im Kurzbeitrag der Bayerischen Staatsoper.
©Bayerische Staatsoper / über youtube zur Verfügung gestellt
Noch mehr Insights und Hintergründe zu Franz Léhars letzter Operette Giuditta, von der Neufassung über die Idee bis hin zur Umsetzung durch den Regisseur Christoph Marthaler, gibt es im vierzehnminütigen Audiofeature der Bayerischen Staatsoper.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
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©Jean-Guy Python / Opéra de Lausanne
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© Gregor Hohenberg / Sony Classical
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