16. Dezember 2021
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Erstmals seit Beginn der Corona-Pandemie öffnet am 07. Dezember die Mailänder Scala ihre Pforten nach zweijähriger Abstinenz vom Operngeschehen.
Mit einem höchst dramatischen Sahnestück just zur Saisoneröffnung und unter trommelwirbelndem Staatsaufgebot gelingt dem neuen Intendanten Dominique Meyer mit der kontroversen Inszenierung des
Verdi Klassikers Macbeth ein fulminanter Start in die wieder auflebende Opernkultur am berühmtesten Opernhaus der Welt.
Operngrößen wie Anna Netrebko, Luca Salsi sowie der italienische Regisseur Davide Livermore hauchen Shakespeares klassischem Königsdrama mit einer räumlich aufgespreizten virtuellen
Darstellungsform gemeinsam den unverwechselbaren Charakter einer futuristischen Gegenwart ein, die in ihrem ganzen Schrecken vielleicht nicht gegenwärtiger sein könnte.
Und so befinden wir uns zum Auftakt des spannungsgeladenen Epos in einem düsteren Wald, der geisterhaft von grausilbernen Nebelschwaden durchsetzt ist.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
In ihm tobt eine Schlacht, in der Macbeth und Banco feindliche Angreifer niedermetzeln. Die übereilte Flucht in einem Auto wird mit kinematografischen Effekten wirkungsvoll zum Leben erweckt.
So rasen die Mörder nach getaner Blutschlacht mit scheinbar 180 Sachen und qualmenden Reifen durch die filmisch beschleunigte 3D-Sequenz, die auf Leinwand projiziert, den real wirkenden dramaturgischen Rahmen bildet.
Schon zu Beginn des ersten Aktes wirkt die szenische Umsetzung von Verdis Historiendrama Macbeth elektrisierend und nervenkitzelnd.
Die Protagonisten Anna Netrebko als eiskalte Lady Macbeth und Luca Salsi in der Rolle des blutrünstigen Macbeth werden dabei kostümopulent in die schillernde Epoche der 40er-Jahre zurückversetzt.
Ein bisschen Filme-Noir-Sternenstaub verquickt mit ganz viel finsterer Science-Fiction Szenerie machen den in Extremen spielenden Opernepos zu einem raumgreifend spannungsgeladenen
Action-Thriller der Superlative, der an die utopische Weltuntergangsstimmung der Batman Verfilmungen in Gotham City erinnert.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Verzerrte Wolkenkratzer, die auf Leinwand gespiegelt wie ein Riesenmaul aus zähnefletschender Hässlichkeit wirken, potenzieren dabei den sich über vier Akte dramatisch zuspitzenden Handlungsstrang genauso wie andere effekthaschende Videosequenzen, in denen mal das Blut großflächig über das Bild spritzt, mal Blitze gleißend hernieder krachen oder unheimlich bedrohliche Wolkenschwaden wie tornadohafte Gebilde durch das Bühnenbild jagen.
Davide Livermores schonungslose Interpretation des Shakespeare-Dramas entlädt sich in einer sehr futuristisch ausgestalteten, obgleich nahezu gegenwärtigen Realität, in der die Herrscher über Leichen gehen und in einem schwachen Geist gefangen kaltblütig ihren psychopathischen Machtgelüsten erliegen.
Nach immer mehr Ruhm gierend, zerstören sie beinahe die Weltordnung, in der sie friedlich und gleichberechtigt auf Augenhöhe miteinander leben könnten.
Mit einem „Viertel-vor-12“ Warnschuss zeichnet Livermore dramaturgisch eine perspektivenlose Zukunftswelt auf, die auf Intrigen und Machtbesessenheit der Eliten bauend totalitär rücksichtslose
und gewaltsame Gesellschaftsentmündigung betreibt, die irgendwie an einen apokalyptischen Totalschaden erinnert.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Doch untergehen tut am Ende nur die Unrechtsherrschaft des geschlagenen Macbeth, der von Macduff ermordet nun im Jenseits zusammen mit seiner suizidalen Ehefrau weiter sein Unwesen treiben kann. Ende gut, alles gut, so wie im Märchen das Gute stets das Böse besiegt.
Dass die geballte Wucht des intrigant böse inszenierten Dramas auch schauspielerisch voll zur Geltung kommt, beweist eine fantastische Cast aus Sängerdarstellern, die mit Anna Netrebko und Luca
Salsi an der Speerspitze des packenden Bühnenwerks nicht hätten besser besetzt werden können.
Erhaben, stolz und eiskalt erscheint die Primadonna gleich im ersten Akt als Lady Macbeth auf der Bildfläche ihres monströsen, in der Skyscraper-Landschaft eingebetteten Apartments, das wohl im höchsten Tower gelegen, die Schaltzentrale der machtbesessenen Gattin Macbeths ist.
Mimisch ausdrucksstark erlebt man Netrebko in einer Glanzrolle, die sie schauspielerisch so überzeugend ausfüllt, dass man der Sängerdarstellerin neben der gesanglichen Exzellenz auch ein darstellerisches Diplom für absolute Höchstleistung ausstellen möchte.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Intrigant, durchtrieben böse und in allen Facetten des niederträchtigen Charakters der Lady Macbeth abstoßend, überrascht die Diva im 3. Akt sogar mit einer gekonnten Choreographie, in der sie wie vom Teufel geritten wie ein wahnsinnig gewordener Derwisch tanzt - so als gäbe es kein Morgen.
Bestechend schön ist auch ihr stimmlicher Liebreiz, der mit der Bösartigkeit des Vergeltung suchenden Racheengels so dermaßen kontrakariert, dass man sich in der sirenenhaften Stimme rettungslos verliert.
Leicht flatternd wie ein Schmetterling, so übergangslos wie aus einem einzigen Guss, schwingt sich Netrebkos Vokalinstrument mühelos in exponierte Höhen. Dabei besticht ganz besonders die vollmundige, dunkelsamtige Tiefe, die sich betörend anmutig, verführerisch und angenehm timbriert in der Atmosphäre des Auditoriums verliert.
Buh-Rufe werden gleich im ersten Akt laut. Davon aber lässt sich die Netrebko nicht um ein MU beirren. Ganz Vollprofi spinnt sie den mordlüsternen Faden weiter, singt sich immer wieder in einen leidenschaftlich ekstatisch irren Rausch und erweckt die Figur der Lady Macbeth mit ihrer einzigartigen darstellerischen und vokalathletischen Präsenz zu ganz neuem Leben.
Damit gewinnt sie im Verlauf des vieraktigen Operndramas auf ganzer Linie.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
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Auch Luca Salsi, der ganz in seiner Rolle als mordender Macbeth aufgeht, versteht sowohl sein darstellerisches als auch gesangliches Fach bis zur absoluten Formvollendung.
Vom Größenwahnsinn angetrieben, eliminiert er König Duncan und seinen unmittelbaren Thronfolger, bis er glaubt, sich an der Spitze seiner Macht zu wähnen.
Fast schwelgerisch suhlt er sich zu Beginn in seiner Mordsucht. Doch alsbald wird er von den Geistern der Ermordeten heimgesucht und fällt der Paranoia zum Opfer. Damit bröckelt sein Machtgerüst peu à peu.
Mit einer perfekt austarierten Stimme, flexibel und geschmeidig, singt sich der italienische Bariton vokalsatt immer und immer wieder in unbändig heroische Fortissimi. Ausdauernd hält die gesangliche Qualität über alle vier Akte hinaus und besticht durch eine grandiose vokaltechnische Brillanz.
Den Bösen bringt Salsi mimisch und gestenreich dermaßen überzeugend zum Ausdruck, dass man sich fast schon angewidert von dieser psychopathischen Grausamkeit des Rollencharakters abwenden möchte.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Banco, Macduff sowie der Chor und das Ballett addieren absoluten Mehrwert auf die ungewöhnlich bis polarisierend in Szene gesetzte Dramaturgie.
Tadellos und von ausgesprochen hoher Qualität zeigt insbesondere Francesco Meli in der Rolle des Macduff, das ein heller Tenor schön, perlend und glockenklar erklingen kann - und das sehr ausbalanciert und auf konstant hohem Niveau, auch wenn die Rollenpartie selbst erst im letzten Akt sehr präsent und fordernd wird.
Musikalisch überrascht die Vertonung des Shakespeare-Dramas, die schwer mit der finsteren Ausgestaltung der Handlung auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen geht.
Obgleich Riccardo Chailly ein ausgesprochen dynamisches Dirigat an den Tag legt, wirken die kompositorischen Elemente Verdis über lange Passagen extrem leicht, nahezu beschwingt und erheiternd.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Erst im letzten Akt erkennt man einen kompositorischen Reifeprozess, der Anklänge an den dreizehn Jahre später vertonten Otello vernehmen lässt.
Das Konzentrat dieser einmaligen Aufführung setzt sich eindeutig aus der lebendigen, effektvollen Inszenierung, der Strahlkraft seiner Rollendarsteller und der unübertrefflichen Symbiose aus orchestraler Eleganz und gesanglicher Virtuosität zusammen.
Und so wird plötzlich aus dem szenischen Niedergang des Antihelden Macbeth eine triumphal inszenierte Erfolgsgeschichte, wie sie die Opernwelt so fulminant schon lange nicht mehr erlebt haben mag.
Anna Netrebko in einer Paraderolle als Lady Macbeth in Davide Livermores einzigartiger Inszenierung an der Mailander Scala. Szene aus dem ersten Akt der vieraktigen Oper Verdis.