VOM KLEINEN, ABER FEINEN UNTERSCHIED
15. JANUAR 2021
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Nicole Hacke / Operaversum
Was macht einen Sänger einzigartig, unverwechselbar und warum haben einige Interpreten eine magische Strahlkraft, während bei anderen die ungeteilte Aufmerksamkeit bereits nach dem Erklingen der ersten Töne gen null tendiert?
Gibt es im klassischen Genre überhaupt gute und schlechte Sänger, herausragende, mittelmäßige und schlechte Künstler, wenn doch alle ihr Fach ausreichend über mehrere Jahre studiert und
hinreichend perfektioniert haben. Die Antwort ist ganz klar: Ja, es gibt sie in allen Klassifizierungen.
Aus Sicht des Zuhörers wiegt dabei ganz sicher das objektive Empfinden genauso stark wie die subjektive Wahrnehmung des Schaustellers auf der Bühne.
Kein Musikliebhaber kann sich der Wirkung eines Charismatikers entziehen, ebenso wenig wie eine extrem dürftige Ausstrahlung dafür sorgt, dass eventuell sogar die stimmliche Exzellenz durch den
persönlichen Auftritt minimiert wird, obgleich die gesangliche Leistung mehr als passabel scheint.
Aber halt: Ist das menschliche Stimmorgan denn tatsächlich Teil der Persönlichkeit eines Interpreten oder Muss dieses vielleicht entkoppelt, allein für sich betrachtet werden. Und kann man den
Menschen hinter seiner Stimme dabei getrost vernachlässigen?
Im Wohnzimmer bei einem guten Gläschen Wein, einer CD lauschend, mag das eventuell funktionieren. Zu 100 Prozent auf den Gesang fixiert, interessiert der Vokalist als Persönlichkeit im ersten Moment nicht vorrangig.
Die professionelle Aufnahme übertüncht dabei so einiges, was in einem Livekonzert oder bei einem intimen Liederabend nicht mal eben so schnell tontechnisch ausgelotet werden kann.
Außerdem sieht man den Sänger nicht, ist demnach auch gar nicht versucht, von der Person auf die Stimme zu schließen beziehungsweise sich von Optik, Ausstrahlung und Interpretation beeinflussen zu lassen.
Da diese Parameter komplett ausgeblendet werden und man als Zuhörer nur der reinen Stimmleistung ausgesetzt ist, wird ausschließlich der Gehörsinn zu 100 Prozent darauf konditioniert, über die
tonale Wirkung zu urteilen. Das Auge hört also nicht mit!
Deshalb hält die CD-Aufnahme keinem absoluten Vergleich zum Konzerterlebnis stand, denn man wundere sich und staune, wie man oftmals aus allen Wolken fällt, wenn endlich der lang ersehnte
Konzerttermin seines Lieblingsinterpreten näher rückt, den man vielleicht noch nie live und unplugged erlebt hat und sich dann der unmittelbare Musikgenuss ganz plötzlich als Totalpleite
herausstellt oder im Umkehrschluss sogar alles bisher Dagewesene in den Schatten stellt und sämtliche Tonaufnahmen bei Weitem übertrifft.
©Nicole Hacke
Beide Szenarien können durchaus zutreffend sein, aber eben nur im direkten Zusammenspiel zwischen Stimme und Stimmgeber.
Was unterscheidet also einen guten von einem schlechten Sänger. Und was braucht es, damit das Publikum im Saal förmlich an den Lippen des Interpreten hängt?
Allein auf die technische Versiertheit der Stimme kann man letzteres Phänomen nicht herunter brechen. Ansonsten könnten wir zukünftig mithilfe von künstlicher Intelligenz smarte Roboter
programmieren, die uns eine Stimme nach Maß konzipierten.
Doch das wird so nicht ohne Weiteres funktionieren, zumal ein ganz entscheidender Faktor bei einer synthetisch erzeugten Stimme keine Berücksichtigung findet: nämlich die Emotionen. Gesang ohne
Emotionen geht nicht!
Eine Stimme taugt nur zu etwas, wenn sie nicht nur auf den Ton genau und vokal formvollendet, sondern insbesondere durch die höchst individuellen Emotionen des jeweiligen Künstlers unterfüttert
wird.
Transportiert die Stimme Emotionen, schwingen Gefühle in ihr mit, dann erzeugt das beim Zuhörer nicht nur ein angenehmes Kribbeln in der Bauchgegend, auch Herz und Seele werden durch den
emotional personalisierten Gesang berührt.
Somit hat jede Singstimme eine eigene ID, ein höchst individuelles Erkennungsmerkmal, das beinahe schon untrennbar mit der Persönlichkeit des Sängers verbunden ist. So wie die Chemie zwischen zwei Menschen auf Anhieb passt oder nicht, genauso verhält es sich eben auch beim Gesang.
Entweder berührt mich, was ich auf der Bühne höre oder ich entlarve einen gefühlsarmen Vokalathleten, der mir nicht im Ansatz ein verklärtes Lächeln ins Gesicht zaubern kann.
So oder so, Emotionen sind wohl das wichtigste Verbindungsglied zwischen dem Sänger und seinem Publikum. Ohne sie kann die Stimme nicht strahlen, nicht glänzen und verfehlt am Ende sogar noch ihre einzigartige musikalische Wirkung.
Beschaffenheit der Stimme
Auch die Beschaffenheit der Stimme hat enormen Einfluss auf das ästhetische Empfinden beim Hörer. So unterscheidet man zum Beispiel in der tenoralen Stimmfärbung zwischen metallisch hellen und
baritonal dunkler kolorierten Tenorstimmen. Je nach Gusto beliebt jeweils das eine oder das andere Extrem. Geschmäcker sind eben grundverschieden.
Bezieht man dann noch die Ausprägung der angewandten Stimmtechnik mit ein, vervollständigt und verschärft sich der klangliche Gesamteindruck.
Hat der Sänger eine ruhige, sichere, tonal sauber austarierte und kräftig ausgewogene Stimmführung oder ist sie ganz im Gegenteil hektisch, unausgeglichen in den Höhen und Tiefen und wird
eventuell noch von einem stark flimmernden Vibrato dominiert.
Beherrscht das Vokalinstrument die leisen Töne mit genauso viel Intensität wie die lauten Töne, die sich mühelos in ein ansteigendes crescendo erheben, um sodann mit Leichtigkeit übergangslos in
ein diminuierendes piano zu verfallen, das bei höchster Formvollendung in einem hörbar gehauchten pianissimo verglimmt.
Gesang ist tatsächlich Kunst auf höchstem Niveau. Und der Teufel steckt hierbei in jedem noch so kleinen Detail.
©Nicole Hacke / Operaversum
Souveränität, Präsenz und schauspielerisches Vermögen
Einem souveränen Sänger merkt man die Nervosität gar nicht erst an. Bestenfalls hat dieser von Lampenfieber noch nie etwas gehört. Selbst wenn er einmal seinen Text vergisst oder seinen Einsatz
verpasst, so weiß er diese kleinen Pannen meistens mit einem charmanten Lächeln abzufedern oder mit intelligentem Witz zu kommentieren.
Souverän ist, wer zu seinen Schwächen stehen kann. Das kommt nicht nur gut an, sondern signalisiert eben auch auf allermenschlichste Weise, dass zwanghafte Perfektion langweilig ist.
Ein interessanter, charakterstarker Sänger ist vielseitig aufgestellt, mit allen Stärken und eben auch Schwächen! Schließlich gehören auch die zum Leben dazu und formen die Persönlichkeit. Soweit
so gut.
Doch was ist mit der Präsenz auf der Bühne. Präsenz ist, wenn ein Interpret den Raum betritt und sich alle Blicke plötzlich auf ihn richten. So sollte es im Idealfall jedem Künstler ergehen, der auf der Bühne steht. Ist der Sänger präsent, ist er zugegen, polarisiert er das Publikum, fungiert er automatisch wie ein Magnet, der die Massen nur mit der Andeutung eines Augenaufschlags anzieht, wie die Motten das Licht.
Entfaltet sich diese Magie bereits, bevor die künstlerische Darbietung überhaupt begonnen hat, ist ein gelungener Auftritt schon halbwegs sicher.
"Die Luft verändere sich, sowie er die Bühne betritt", so wurde vor nicht allzu langer Zeit die Aura eines Weltstars beschrieben.
Was kann man solch einer Aura noch entgegensetzten, wenn eben nicht nur die Stimme hält, was sie verspricht, sondern auch die Illusorische Wirkung eines magischen Moments durch den Sänger bestärkt wird.
Fehlt zu guter Letzt noch das schauspielerische Vermögen. Nun mag ein einfacher Liederabend keine große darstellerische Herausforderung sein.
Doch weit gefehlt, denn der intime Liedgesang ist so vollends auf die Interpretation der Liedtexte ausgerichtet, dass allein der Schöngesang, ergo das heruntergeträllere einer Gedichtsammlung nicht zu einem vielversprechenden musikalischen Abend beiträgt.
Gedichte in Liedform sind wohl das schwierigste, welches es zu interpretieren gilt und dabei kommen Gestik, Mimik, echte Gefühle und schauspielerisches Können in geballter, leidenschaftlicher Wucht zum Einsatz, denn der Sänger muss es verstehen, eine Geschichte in Wort und Ton überzeugend zu erzählen.
Auf der Opernbühne ist es selbstredend, dass professionelles Schauspiel Hand in Hand mit der musikalischen Darbietung geht. Dabei interessieren passives "Akteurgehabe" genauso wenig wie
aufgesetzte Theatralik und Affektiertheit.
Natürlichkeit und echte, wohl dosierte Emotionen sind die Leitwörter des heutigen Opernbetriebs. Antiquiert und verstaubtes Schauspielgehabe will keiner mehr.
Modern, aufgeschlossen, pur und realitätsnah, so soll Oper gerade auf der Bühne gelebt werden und so echt und unverfälscht wirken, dass einem fast der Atem stockt, wenn ein Jonas Kaufmann als Othello seine Desdemona am Londoner Opernhaus mit dem Kissen solange traktiert, bis einem die Schweißperlen vor Angst, er könnte tatsächlich ernst machen, die mitfiebernde Stirn herunterlaufen.
©Nicole Hacke / Nicole Hacke
Charisma und Ausstrahlung
Nicht, dass ich es zuvor nicht schon erwähnt hätte. Gerne gehe ich noch mal auf diesen leicht zu unterschätzenden Faktor ein.
Mit einer Aura im Gepäck, einem echten, ungekünstelten Charisma, das von innen nach außen strahlt, transportiert auch die Stimme dieses innere Leuchten über die Augen, die Lippen und
schlussendlich über das ganze Gesicht, und verleiht auch der körperlichen Haltung eine grundlegend positive Dynamik.
Zudem klingt es einfach anders, wenn man die Freude im Ausdruck des Sängers wahrnehmen und sehen kann. Bevor der erste Ton überhaupt die Lippen verlässt, kann man als Zuhörer erahnen, welches gewaltige Vokale Potenzial sich mit der positiven Energie klangvoll vermengen wird.
Erliegt der Sänger seinem eigenen emotionalen Endorphinrausch, so überträgt sich das 1 zu 1 auf das Publikum.
So einige Konzerte habe ich erlebt, die mich oftmals vor Freude taumelnd, beschwingt und heiter in einen solchen Rausch versetzt haben.
Wer braucht da noch einen Marathon laufen, um sich in Glückszustände zu katapultieren, wenn Musik diesen Effekt bereits ohne schweißtreibende sportliche Verausgabung erzielt.
Und noch eines...
Sympathie, Authentizität und eine gewisse Bodenhaftung schätze ich persönlich ungemein an einem Künstler und ganz besonders dann, wenn es sich dabei um eine Person des öffentlichen Lebens
handelt, die sich regelmäßig im Scheinwerferlicht der Medien zu behaupten hat.
Arroganz, Affektiertheit und Unnahbarkeit empfinde ich als absolute „Show-Stopper“ in einem Business, dass sowieso nur darauf ausgelegt ist, Stars zu „züchten“ und diese zu Marketing- Marionetten
zu stilisieren.
Nichts macht einen Sänger unattraktiver als die Tatsache, das der oder diejenige nur als posierendes, repräsentatives, medienwirksames Beiwerk für die Massen gehandelt wird.
Da Menschen in Zeiten schlechter Vorbilder und gefakter Identitäten zunehmend authentische und ehrliche Persönlichkeiten brauchen, ist es geradezu wohltuend, auf „Stars“ zu treffen, die ihre
Berühmtheit und ihren privilegierten Status nicht ungebührend ausreizen und immer wieder an die große Glocke hängen, sondern fast bescheiden auf ihrer Bodenständigkeit beharren und damit ein
ausgewogenes Maß an Bürgerlichkeit vorleben.