18. MÄRZ 2020
©Nicole Hacke
Als mich mein Mann vor ein paar Jahren vom Hamburger Flughafen mit stirnrunzelnder Miene abholte, war seine allererste Frage nach meiner Ankunft, ob es denn bald vorbei sei mit den Konzertreisen, die ich immer regelmäßiger unternahm. Ich hätte doch letztendlich genug Live- Auftritte mit meinem Lieblingstenor erlebt. Fünf Konzerte müssten doch wohl langsam reichen!
Meine Antwort auf seine rhetorische, nicht wirklich ernst zu nehmende Frage fiel kurz und knapp aus. Würde er irgendwann so singen können wie eben jener gewisse Tenor, dann könne ich es mir
eventuell überlegen, meine Konzertreisen zukünftig einzustellen, wohlwissend, dass dieser Fall "Gott sei Dank" nie eintreten würde.
Es ist für viele Menschen, die in ihrem Leben keine große Musikaffinität entwickelt haben, schier unverständlich, warum sich Klassikliebhaber aus purer Überzeugung dazu veranlasst sehen, weite
Reisen in Kauf zu nehmen, nur um einen herausragenden Dirigenten oder einzigartigen Interpreten live & unplugged zu erleben. Noch viel weniger Verständnis wird einem entgegengebracht, wenn
herauskommt, welche horrenden Kartenpreise für besonders exklusive Konzerte erhoben werden. Fix rechnen die Schnelldenker einem dann an allen 10 Fingern vor, was man anstelle der teueren Karten
dafür alles in solide materielle Werte hätte umsetzen können. Sparen wäre eine weitere Option.
Doch es geht hier nicht darum Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Man kann ein besonderes musikalisches Ereignis, das zwar so flüchtig wie ein plötzlich vorbeiziehendes Sommergewitter ist,
langfristig aber so nachhaltig glücklich macht wie ein erfülltes Leben selbst, schlichtweg nicht dem sinnlosen materiellen Reichtum unterordnen. Das eine hat zwar Bestand, vergrößert aber nur das
Loch der inneren Leere, während das andere die Tanks der emotionalen Bereicherung und Zufriedenheit füllt.
©Nicole Hacke
Was nützt mir ein Haus am Meer, eine luxuriöse Einrichtung, eine Jacht im Hafen von Nizza, wenn mein Leben keinen Sinn erfährt, ich mich innerlich leer fühle und kein Glück empfinden kann.
Was nützt es mir hingegen, wenn ich regelmäßig in Konzerte, zu Festivals und Opernaufführungen gehe, die mich emotional berühren, mir Glücksgefühle in Endlosschleife bescheren, meinen
Endorphinhaushalt in ein stabiles und ausgewogenes Gleichgewicht bringen, und ich noch Monate danach ein Lächeln auf den Lippen habe, allein durch den positiven Gedanken an diesen wundervollen
Moment, den ich zwar nicht greifen und festhalten kann, der aber meine Zufriedenheit nährt und meinem „Glücksmuskel“ das Futter gibt, damit er weiter wachsen und gedeihen kann.
Es nützt mir nämlich unendlich viel meinem Leben Sinn und Erfüllung durch qualitativ hochwertige Musik zu geben.
Selbstverständlich könnte ich mir natürlich einfach auch ein Abo für die Oper in meiner Stadt kaufen und damit eine Menge Geld sparen, das ich aktuell für den teuersten Tenor der Welt so eben mal
zum Fenster rausschmeiße. Dann könnte ich rein rechnerisch für den Preis einer teuren Konzertkarte gleich mehrere Opernvorstellungen im Monat besuchen. Schließlich kosten die Veranstaltungen mit
weniger bekannter Besetzung gerade mal ein Drittel von den begehrten, immer unerschwinglicheren Konzertkarten der Spitzentenöre.
Nur ist diese Hin- und Herrechnerei eben auch nur eine Milchmädchenrechnung!
Was bringt mir Quantität, wenn zu befürchten ist, dass die Qualität dabei auf der Strecke bleibt?
©Nicole Hacke
Ich kann zum ersten Mal in meinem Leben die Oper besuchen und nach der Vorstellung mit leuchtenden Augen beseelt und glücklich nach Hause gehen. Vollends überzeugt und mit dem Virus der klassischen Musik infiziert, will ich nun immer mehr von der hohen Kunst der Muse erleben. Es kann aber auch genau das Gegenteil davon passieren, nämlich dann, wenn es an der musikalische Qualität an allen Enden und Ecken hakt. Höchstwahrscheinlich bin ich dann zum ersten und auch zum letzten Mal in meinem Leben in der Oper gewesen, denn der Grad zwischen leidenschaftlicher Virtuosität und leidenschaftslosem Mittelmaß ist gerade mal nur so breit, dass ein wirklich tolles Meisterwerk Gefahr laufen kann, in den Abgrund der Lächerlichkeit zu stürzen.
Zu viel aufgesetzte Theatralik, zu viele übertriebene Gesten, ein unausgereiftes schauspielerisches Vermögen, unglaubwürdige Darsteller, die in allem, was sie auf der Bühne verkörpern, den Bogen der Glaubhaftigkeit bis weit über den Anschlag des Erträglichen überspannen. Da kann das Maß der misslungenen und oftmals missinterpretierten Kunstform irgendwann so übervoll sein, dass einem dabei die Lust an weltfremden, überstilisierten Dramen komplett und für immer vergeht.
Einst erlebte ich in Paris eine Aufführung von Puccinís Tosca, die beinahe in allen Aspekten der szenischen, dramaturgischen und musikalischen Darstellung perfekt gelungen war, bis auf das
Unvermögen der gesanglichen und darstellerischen Fertigkeiten des Tenors. Wie eine Marionette aufgezogen, hampelte der Sänger mit einem übertriebenen Gehabe in selbstdarstellerischer
Affektiertheit wie ein Gockel auf der Bühne herum und verhunzte dabei eines der leidvollsten, traurigsten und beseeltesten Arien: "E lucevan le stelle!" Auch tonal war da nichts mehr zu retten
gewesen. Leider!
©Nicole Hacke
Saß man einmal in so einer Vorstellung, die einem den ganzen Operngenuss vermiest hat, weiß man wohl sehr genau, warum man der Sucht nach immer mehr guter Kunst und ebenso guten, wenn nicht sogar herausragenden Künstlern erlegen ist.
Die echten Gefühle, das wahre Sentiment, die Leidenschaft, realistisch mit Herzblut, ohne gekünstelte Effekthascherei gespielt, das kann nicht jeder, genauso wenig wie es nicht jeder vermag,
wahrhafte Gefühle über die Stimme zu transportieren.
Es gibt Künstler, die außer ihrem technischen Stimmvermögen oder ihrer orchestralen Perfektion in einer emotional reduzierten Musikdarbietung mit dem Publikum kommunizieren, was nicht heißen
soll, dass die Musik an sich schlecht interpretiert oder dargeboten wird. Es gibt sehr viele Musiker, die mit genau dem Effekt der emotionalen Distanziertheit ein ganz großes Publikum erreichen
und auch begeistern. Emotional puristische Unterkühltheit als tonale Kunstform. Warum nicht aus das?
©Nicole Hacke
Will man aber alles, will man das Gesamtpaket, bestehend aus technischer Perfektion, Emotion, Charisma und hoher Schauspielkunst, dann führt kein Weg daran vorbei, sich die Besten der Besten anzuhören und anzuschauen.
Erst wenn man sich nicht mehr ganz sicher sein kann, ob auf der Bühne ein Mord fingiert wird oder tatsächlich passiert, dann ist es ganz große Oper. Und wenn einem dann noch ganz warm ums Herz
wird, weil man genau spürt, dass der Sänger auf der Bühne mit seiner Stimme auch seine Seele mitklingen lässt, die dann auf wundersame Weise plötzlich mit der eigenen in Einklang kommt, dann ist
es emotionale Magie, dann grenzt es fast schon an ein transzendentales Wunder.
Könnt Ihr nachvollziehen, worauf ich hinaus will. Jetzt mögt Ihr einwenden, dass die Opernkarten für die elitären Vorstellungen unerschwinglich teuer sind. Doch
ihr musst auch nicht im Parkett in den vordersten Reihen sitzen. Um großartige Künstler in einem großartigen Haus zu erleben, kann auch ein Stehplatz für das unvergessliche Erlebnis in ein
formvollendetes Klang- und Schauspielerlebnis eine wahrlich gute Option sein. Auch die preisgünstigeren Galerieplätze ermöglichen eine gute Sicht auf das Bühnengeschehen und sind generell beliebt
bei den Genusshörern, denn unter der Kuppel eines jeden Opernhaues verdichtet sich der orchestrale und stimmliche Klang am optimalsten. Darüber hinaus hilft auch ein Opernglas, wenn man die
Darsteller auf der Bühne hin und wieder aus der Nähe betrachten will. Tut nur eines nicht bei einem Opernbesuch: spart niemals an der Kunst und an den Künstlern selbst..
Eure