Märchenhafte Turandot mit Anna Netrebko und einer wahnsinnsinszenierung an der Mailänder Scala

05. Juli 2024

Rubrik Oper

©Brescia e Amisano

Was für eine "Show", was für ein traumhaftes Märchen, das in die Gegenwart gerückt,  strahlende Glanzmomente auf die Bühne der Mailänder Scala zaubert.

 

Davide Livermore leistet mit seiner bewegt-dynamischen Neuinszenierung von Puccinis letztem Meisterwerk Turandot nicht nur ganze Arbeit, sondern kreiert mit Detailtiefe magische Momente. Momente, die unfassbar ästhetisch anmuten und seine Zuschauer in eine höchst anschauliche Welt der grausamsten Herrscherin Pekings entführen.

 

Von Nicole Hacke

 

Packend, fesselnd, nervenkitzelnd und mit einer so perfekt ausgestalteten Handlung, zieht sich der Spannungsbogen von der ersten bis zur letzten Sekunde durch das normalerweise langatmige Werk. Steife Posen und erstarrte Akteure kommen bei Livermore höchstem im Gefrierschrank vor.

 

Tatsächlich unterdrückt der Opernregisseur jeglichen Kitsch und schafft es, mit modernster Bühnentechnik unter Inanspruchnahme von Videoprojektionen und symbolisch eingesetzten Objektinstallationen dem Werkgedanken vollends gerecht zu werden, Puccinis Musik sogar zu überhöhen und aus einer wenig aktionsreichen, oftmals statisch inszenierten Handlung, einen echten "Thriller" auf die Bühne zu zaubern.

 

Schlüsselszenen, die sich höhepunktreif aus dem Handlungsstrang herausschälen, treiben die Spannung steigerungsintensiv von Akt zu Akt.  Keine Minute vergeht ohne das irgendetwas auf der Bühne passiert.

 

Schon zu Beginn des 1. Aufzugs bricht über Peking die "Hölle" los. Inmitten der pulsierenden Stadt prügelt die kaisertreue Leibgarde auf einen von Turandot zum Tode verurteilten Prinzen ein. Brutal reißen sie dem Wehrlosen sämtliche Kleider vom Leib, stoßen ihn zu Boden und überlassen ihn seinem Schicksal.

 

Der Henker, eine überraschenderweise grazile, elfengleiche Frau, die in einem weiß-roten Fließgewand kontrolliert und mit geschmeidig leichtfüßigen Schritten auf den nackten Prinzen zusteuert, hält statt eines Beils ein karmesinrotes Seidenband als symbolisches Exekutionswerkzeug zwischen ihren Händen.

 

©Brescia e Amisano

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Livermore übt sich und das ist das inszenatorische Faszinosum - in glasklaren Andeutungen, verwischt die dramaturgischen Konturen so geschickt, dass man als Zuschauer zwar ahnt, worauf die Szene hinaus will, die Umsetzung dennoch nicht in eine perverse Brutalität abrutscht.  Das es blutrünstig und blutig wird, erkennt man an unzähligen Gestaltungselementen.

 

Besonders beeindruckend und dabei äußerst plastisch sticht kurz nach der Enthauptung des exekutierten Prinzen ein überdimensionierter Vollmond in den Vordergrund. Glutrot und von imaginär fluiden Feuerschwaden umhüllt, nutzt der Regisseur die kreisrunde Projektionsleinwand als universelles Hauptstilmittel für unterschiedlich gewählte Animationen seiner stilistisch auf den Punkt gebrachten Bildsprache. 

 

Dabei lichtet sich zuerst das rote Farbenmeer in der immer transparenter werdenden Hülle des "Silbermondes" und legt einen skurril wirkenden schwarzen Totenkopf frei, der düster aus dem Mondgesicht hervorzuquellen scheint.

 

Spätere Projektionen zeigen den Mond mal grau marmoriert, karmesinrot erleuchtet, dann wiederum sonnengelb erhellt und zu guter Letzt Schönheit, Vergänglichkeit und Neuanfang in Form eines üppig blühenden Kirschbaums darstellend, sodass man sich in einem Mosaikgebilde wahrhaft überirdischer Mystik verliert.

 

Es ist der Wahnsinn, wie viele Gedanken sich der italienische Regisseur um dieses relativ sperrige Werk Puccinis gemacht hat, es offensichtlich so sehr ehrt, dass seine Würdigung paradiesische Gestaltungsformen annimmt.   

 

Berührend auch die Schweigeminute im letzten Akt, kurz nach Lius selbstmörderischem Abgang. Jetzt zeigt das Mondgesicht das Bild Puccinis, darunter steht: An dieser Stelle ist Puccini verstorben! Dann wird es mucksmäuschenstill im Auditorium und auf der Bühne. Andächtig schweigen nun Musik, Künstler und Publikum.  Tausende von LED-Kerzen erleuchten warm schimmernd den Mailänder Musentempel. Nach einer Minute des Innehaltens setzten Dirigent, Orchester und Sängerdarsteller ihre Kunst wieder fort.

 

Was für ein hochemotionaler Moment, der sich einem ins Herz brennen muss. Kompositorisch übernimmt nun Alfano das Ruder, der nach Puccinis Ableben den 3. Akt vollendete und sich der Musik Puccinis so nahtlos annähern konnte, dass man kaum merklich musikstilistische Abweichungen zum "Original" feststellt.

 

©Brescia e Amisano

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Das die Inszenierung Livermores der musikalischen Darbietung ein wenig den Rang abläuft, ist kaum zu glauben, auch wenn sich Anna Netrebko in ihrer Rolle als Turandot gewaltig ins Zeug legt. Doch so richtig will die Partie, die für die Ausnahmekünstlerin eine Premiere an der Mailänder Scala ist, nicht in Fleisch und Blut übergehen.

 

Temperamentvolle Rollen, kapriziöse oder vor Rage wutschäumende "Weiber" mit vulkanisch-explosiven Rachegelüsten liegen der Sopranistin ausgezeichnet, nicht aber eine so passiv-aggressive Psychopatin, wie es die Turandot nun Mal ist.

 

Als "Eisprinzessin", die sich auf das Grausamste an ihren Heiratsanwärtern vergeht, wirkt die unterkühlte Art der Netrebko immer noch eine Nuance zu warm. Wie sie da in der ersten Szene in einem Meer aus Kirschblüten ein fast schon liebreizendes, verführerisches Dornröschen verkörpert. Ob diese Assoziation wohl gewollt ist?

 

Süß vor sich hinträumend, verhärtet sich das Bild der Unschuld umso mehr, als Anna Netrebko nach ihrem Erwachen den Kaiser mit verklärtem Blick anlächelt. Lächelt so eine Eisprinzessin? Kaum zu glauben, dass da wirklich kein warmes Herz in der Brust der Sängerdarstellerin schlagen soll.

 

Viel zu brav, viel zu konform und mit viel zu weichen Gesichtszügen unterwegs, schafft es Netrebko nicht, eine zu 100 Prozent überzeugende Turandot darzubieten. Da hilft auch nicht der Anflug einer kokettierenden Coolness oder das einmalig gefährlich aufblitzende Leuchten in den Augen der Künstlerin.

 

In diesem Fall sind leichte Andeutungen zu wenig des Guten, um dem Ausmaß an Grausamkeit der Turandot gerecht zu werden. 

 

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Gesanglich von betörender Schönheit, gelingt Anna Netrebko der schwierige Drahtseilakt, sich biegsam und registerversiert in exorbitant exponierte Obertöne intensiv und ausdauernd hochzuschrauben. Diese Partie ist abartig mörderisch und vokalathletisch so gruselig, dass man eigentlich schreiend davor wegrennen müsste. 

 

Nicht so Anna Netrebko, die mit einer ausgeglichen ruhig strömenden Art, fast schon entspannte Vokalergüsse produziert. Wendig wie ein Derwisch schlängeln sich die Töne ausufernd leicht und im ästhetischen Fluss in das, was bei vielen anderen Sängerinnen unter enormer Anstrengung nur noch als herausgepresstes Gekreische bezeichnet werden könnte.

 

Nie hat man auch nur annähernd einen solch missglückten Versuch bei der Opernsängerin erlebt. Dort ganz oben, am Mount Everest ihres stimmlichen Alleinstellungsmerkmals scheint Anna Netrebkos Naturstimme schier grenzenlos zu sein.

 

Duftig, perlend und brillant fliegen sie allesamt, die tonalen Cabochons, weich schimmernd in den Orbit des Auditoriums - und das bei einem diminuendo, noch dazu in einer Höhe, bei der eigentlich die Stütze gut zu gebrauchen wäre. Wahnsinn, einfach nur Wahnsinn!

 

Genauso bemerkenswert, wenn nicht sogar bemerkenswerter ist Netrebkos Spagat, der sich zwischen dem Erklimmen der exponierten Lage und dem Artikulieren der satten Registertiefe abspielt. Wow! Wie erotisch klingt denn das, bitteschön. Wie das angenehm, vibrierend vor sich hin wabert, erotisierend, stimulierend im Gehörgang und einfach nur umwerfend honigsamten.

 

Diese Frau mit ihrer langen Stimme, die auch in der Tiefe immer runder, wärmer und goldener klingt, ist ein Stimmwunder sondergleichen.

 

©Brescia e Amisano

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Yusif Eyvazov, der den unbekannten Prinzen Calaf gibt, startet mit ausgeprägten Anlaufschwierigkeiten in den ersten Akt. Mit etwas zu viel Power auf den Stimmbändern, scheppert der Gesang etwas holprig in die Vollen, was sich aber spätestens nach dem ersten Akt ausschwitzt.

 

Dann fühlt man den Calaf und seine Liebe zu Turandot. Auch sein "Nessun Dorma" im 3. Akt entlockt mir ein leises "Wow", trotz des abrupt abfallenden Spannungsbogens beim ersten "Vincerò", bevor die letzten beiden Töne heroisch in voller "Legato-Pracht" unglaublich ausdauernd und stentoral erblühen.

 

Das ist schon ein bisschen Gänsehaut wert, genauso wie die Interpretation der Liù durch Rosa Feola. Nur zu Recht gebührt der italienischen Sopranistin einer von zwei Blumensträußen (der andere ist für Anna Netrebko), denn diese geballte Emotionalität, mit der sich die Künstlerin in ihre Rolle hineinsteigert, schießt knapp über die kontrollierte Ekstase hinaus. 

 

Chor, Orchester, Dirigat, ach, was will ich sagen, auch Ping, Pang und Pong sind wunderbar, so wie einfach alles. Turandot wird zwar nie meine Lieblingsoper werden. Aber so inszeniert, so auf die Bühne gebracht mit einem fulminanten Ende, das jedes Kindermärchen locker in die Ecke stellen könnte , wird diese Oper mit Davide Livermores Hilfe glatt noch zu meinem Lieblingsmärchen für Erwachsene. Mille, mille grazie!

 

 

Besetzung

 

Princess Turandot

Anna Netrebko

 

The Emperor

Altoum Raúl Giménez

 

Timur

Vitalij Kowaljow

 

The Unknown Prince (Calaf)

Yusif Eyvazov

 

Liù

Rosa Feola

 

Ping Sung-Hwan

Damien Park

 

Pang

Chuan Wang

 

Pong

Jinxu Xiahou

 

A Mandarin

Adriano Gramigni

 

Die Inszenierung der Turandot an der Mailänder Scala ist noch bis einschließlich 12. Juli 2024 auf Arte TV abrufbar.

 


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