08. Dezember 2024
Rubrik Oper
©Brescia / Amisano - La Scala
Was für eine Anna Netrebko! Was für eine Geschichte. Grandios inszeniert, zeigt sich am heutigen Abend an der Mailänder Scala wie Oper richtig packend und fesselnd auf die Bühne gebracht werden kann. Dabei hat sich der Regisseur Leo Muscato etwas ganz Besonderes für die dramaturgische Erzählung von Verdis epischem Meisterwerk "La Forza del Destino" überlegt.
Im ersten Akt in einer historischen Vergangenheit verortet, in der Standesunterschiede und Rassismus konturiert hervorgehoben werden, setzten sich die weiteren Akte der Oper in der jeweils nächstgelegenen Zukunft fort.
Von Nicole Hacke
Auf einer Drehbühne geschickt eingefädelt, merkt man zuerst kaum, dass der rote Handlungsfaden mit Beginn des 4. Aktes längst in der aktuellen Gegenwart angekommen ist. Statt Säbel werden nun Maschinengewehre als Kampfwerkzeuge eingesetzt.
Aber keine Angst, geschossen wird nur aus einer Pistole - und zwar von Alvaro, dem indigenen, dunkelhäutigen "Liebhaber" Leonoras, der sich anmaßt, eine Beziehung mit einer Tochter aus gutem Hause einzugehen und durch einen unbeabsichtigten Schuss Leonoras Vater tödlich verwundet.
Dieses fatale Ereignis zieht nun einen großen Rattenschwanz leidvoller Episoden hinter sich her, die sich in den Wirren eines brutalen Krieges verheddern.
Auch wenn man meint, diese Geschichte erzähle lediglich das Schicksal zweier sich Liebender, die aufgrund ihrer jeweiligen Herkunft keine gemeinsame Zukunft miteinander finden können, so weiß doch der Regisseur ganz genau, dass es in dieser Oper um weit mehr, als nur um eine missglückte, nicht standesgemäße Liebesbeziehung geht.
©Brescia / Amisano - La Scala
Auch wenn die Motive an der Oberfläche eindeutig Glaube, Hoffnung, Liebe lesen, so steht im Vordergrund dieser inszenatorischen Lesart, gesellschaftlicher Umbruch, der sich durch Chaos, Krieg, Klassenkämpfe und Rassismus ausdrückt.
Die Liebe, die alle Wunden heilt und der Hoffnung zur Eroberung von neuen Lebensräumen und einem zuversichtlichen Neuanfang verhilft, wird erst mit der Auflösung der Geschichte im finalen Akt beschrieben; dann nämlich, wenn Anna Netrebko (Leonora) durch die Hand ihres rachsüchtigen Bruders sterbend in den Armen ihres geliebten Alvaro liegt und ihre Seele frei und versöhnt zu Gott zurückkehren kann.
Symbolisch wird das Ende Höhepunkt-intensiv durch einen verkohlten Baum ins rechte Licht gerückt. Während Alvaro (Brian Jagde) noch trauernd über der längst verschiedenen Anna Netrebko kniet und man sich bereits so gut wie sicher sein kann, dass gleich der Vorhang fallen wird, schwenken plötzlich die Bühnenscheinwerfer von Alvaro und Leonora weg und richten ihr grelles Licht auf den trostlos toten Baum.
Intensiv genug, um dem Drama die richtige Würze zu verpassen, lässt das verkrüppelte Etwas von einem Überrest eines Baumes keinen Hoffnungsschimmer mehr zu, geschweige denn aufkommen.
Doch dann passiert das große Wunder! Plötzlich treiben kleine Zweige, dann immer mehr Zweige und grüne Blätter aus dem verkohlten Baumstamm und lassen den Zuschauer staunend und mich sogar ein wenig demütig zurück.
Es quellen leise Tränen meine Augen hoch. Ich muss schlucken, denn der Regie ist mit diesem unerwarteten Finale etwas ganz Außerordentliches gelungen. Sterben wir auch alle und müssen uns im Leben mit Schicksalsschlägen herumplagen, verlässt uns zuweilen der Mut oder gar der Glaube, so stirbt, auch wenn es das Sprichwort anders will, die Hoffnung auf das Gute nie. Und das ist auch gut so.
©Brescia / Amisano - La Scala
Gut, wenn nicht sogar außerordentlich ist auch die musikalische Interpretation, die einen von der ersten Sekunde an mitreißt. Spannungsgeladen prescht Riccardo Chailly in der Ouvertüre mit einer gewaltigen Dynamik temporeich durch das Schicksalsmotiv, das nicht gehetzt oder nervös aufpeitscht, aber dennoch eine steigerungsintensive, ungute Vorahnung verströmt.
Begeistert von dieser facettenreichen Interpretation, lässt sich das Mailänder Publikum nicht lange bitten, applaudiert aufbrausend stürmisch und hält auch mit Bravi-Rufen nicht hinterm Berg.
Doch was Anna Netrebko aus der Rolle der Leonora macht, ist bahnbrechend. Voller Leidenschaft und mit einem verzweifelten Gestus kämpft sie zu Beginn um die Liebe zu Alvaro und geht sowohl darstellerisch als auch gesanglich in die Vollen. Und wie das klingt. Und wie die Töne elegant strömend uferlos, explosiv und kraftvoll auch in die exponiertesten Höhen hervordringen.
Diese Frau ist eindeutig kämpferisch unterwegs und kein liebliches Veilchen im Moose, das ausschließlich durch balsamischen Schöngesang beeindruckt. Nein, Anna Netrebko fesselt mit ihrer Explosivität, die stimmlich raumgreifend um sich schlägt und eine absolute Vokalpräsenz an den Tag legt, wie man sie von einer Leonora so noch nicht gehört hat.
Die Künstlerin ist an diesem Abend eine Rebellin vor dem Herrn. Sogar ihre Gebete, die noch vor ein paar Jahren am Royal Opera House in London sphärisch entrückt ins Auditorium drangen, erscheinen auf der Bühne der Mailänder Scala greifbarer, roher, drastischer und charakterlich gehaltvoller, was ihrer traumhaft herrlichen Stimme, die absolute Dramatik versprüht, absolut keinen Abbruch tut. Hier betet wahrhaft eine Verzweifelte, die nicht mehr ein noch aus weiß.
Selbst ihr "Pace" im vierten Akt ist ein Statement mit Alleinstellungsmerkmal. Zurück ist ihre balsamische Piano-Kultur, die fliegenden Obertöne, die kein Ende zu nehmen scheinen und sich in Uferlosigkeit davonschwebend total vokalerotisch in der Sphäre auflösen. Dieses Flimmern, dieser Hauch von einem fast nicht existenten Vibrato, dieser Flügelschlag einer Stimme, der einem die Schmetterlinge im Bauch hin und her flattern lässt: O dio mio!
©Brescia / Amisano - La Scala
Es ist ein Wahnsinn, wie betörend, wie verführerisch, wie hypnotisch diese Frau als künstlerisches Gesamtkunstwerk in Erscheinung tritt.
Aber dieses Mal holt Anna Netrebko wirklich alles aus den charakterlichen Facetten der Protagonistin heraus, bedingungslos, schonungslos und so menschlich, dass man das Leid, die Liebe und die Hoffnung in allen Farbschattierungen des Lebens nachspüren kann.
Großartig macht sich auch der US-amerikanische Tenor Brian Jagde, der - anstelle von Jonas Kaufmann - die Rolle des Alvaro übernommen hat.
Ein wahres Glück, möchte man meinen, denn die Rolle ist für den Tenor nicht nur passgenau gemacht, sondern auch ein stimmliches Feuerwerk, das emotionale Temperaturen locker auf den Siedepunkt bringt.
Und dann erst diese Stimme, die, baritonal eingefärbt, ein leuchtendes und gleichermaßen warmgoldenes Timbre verströmt und dennoch heroische Strahlkraft in den Obertönen absetzen kann. Ich liebe diese Stimme, die kraftvoll, saturiert und das dramatische Fach so ausgesprochen intelligent meistert, dass einem in dieser Sängerkonstellation an wahrhaft nichts fehlt.
Jagdes Arie im zweiten Akt gelingt formidabel. Dynamisch sehr fein austariert, formschön phrasiert und mit ausufernden Legati versehen, kann man dem Künstler nur wünschen, dass sein Karriereweg steil nach oben geht. Schließlich braucht die Opernwelt so einen Tenor, der es zudem immer mehr schafft, auch darstellerisch auf das Eindrücklichste zu überzeugen.
Dieser Meinung scheint auch das Publikum im Auditorium zu sein. Mehrmals erklingen Bravi-Rufe für den Tenor, der vor Dankbarkeit und Wertschätzung über beide Ohren strahlt und seine Freude ganz bescheiden bekundet.
Aber da in einer Oper immer aller guten und oftmals schlechten Dinge "Drei" sind, geht ohne den bösen Buben "Bariton" leider gar nichts, denn die Handlung wird ohne diesen üblen Vertreter meistens nicht weltbewegend vorangetrieben. Und so erlebt man mit dem französischen Bariton Ludovic Tézier einen absoluten Gewinn im dynamischen Dreiergespann.
Herrlich satte, dunkle und ausdrucksstarke Töne entschweben dem Künstler, während er auf Rache an seiner Schwester sinnt und sich dabei oft genug so schön in Rage singt, dass man innerlich ein wenig ängstlich erbebt vor dieser niederträchtigen Figur.
Insbesondere das schlussendlich vereitelte Duell zwischen Alvaro und Don Carlo (Ludovic Tézier) hat Thriller-Potenzial. Beide Stimmen erheben sich, rangeln miteinander, brausen wutschäumend auf. Es ist ein absolutes Vergnügen dieser Szene beizuwohnen, ebenso wie der eindrücklichen Präsenz einer Vasilisa Berzhanskayas, die als Preziosilla vokalstarke Registersprünge mit "Salto-mortale" Garantie meistert.
Überhaupt ist dieser Abend ein Feuerwerk der Gefühle, die auch vor dem Publikum nicht Halt machen. Viel Applaus, stürmische Bravi-Rufe, aber auch ein Chor der Buh-Rufer durchmischt sich mit der Begeisterung für diesen unvergesslichen Abend. Doch in all dem Trubel behält die Kunst mal wieder die Oberhand, Buh-Rufe hin oder her: Anna Netrebko, Brian Jagde und Ludovic Tézier haben ganz große Oper gerockt.
Besetzung
Il marchese di Calatrava
Fabrizio Beggi
Donna Leonora
Anna Netrebko (7, 10, 13, 16, 19, 22 dic.) / Elena Stikhina (28 dic., 2 gen.)
Don Carlo di Vargas
Ludovic Tézier (7, 10, 13, 16, 19, 22 e 28 dic.) / Amartuvshin Enkhbat ,2 gen.)
Don Alvaro
Brian Jagde (7, 10, 13, 16, 19, 22 dic.) / Luciano Ganci (28 dic., 2 gen.)
Preziosilla
Vasilisa Berzhanskaya
Padre guardiano
Alexander Vinogradov / Simon Lim (28 dic., 2 gen.)
Fra Melitone
Marco Filippo Romano
Curra
Marcela Rahal
Un alcade
Huanhong Li
Mastro Trabuco
Carlo Bosi
Un chirurgo
Xhieldo Hyseni
Weitere Informationen zu den Interpreten auf: