07. März 2024
Rubrik CD Tipps & Literatur
©Dorit Havel
Der zweite historische Roman der Berliner Autorin Arabella Meran entführt die Lesenden in die glamouröse Welt der Oper und in die kultivierten Salons im Wien der Goldenen Zwanziger.
Die Heldin dieser Geschichte ist die junge norddeutsche Dirigentin Johanna Osterkamp, deren großer Traum es ist, mit den Wiener Philharmonikern zu musizieren. Doch als sie sich im November 1925 auf die Stelle des Assistenten des Kapellmeisters bewirbt, wird sie bereits an der Pforte harsch abgewiesen: Eine Frau als Dirigent? Unmöglich!
Das meinen jedenfalls die Männer, die am Wiener Operntheater das Sagen haben. Um eine Chance beim Vorspielen zu bekommen, greift Johanna zu einer List und schneidet sich kurzerhand das lange Haar ab.
Am nächsten Tag kreuzt sie mit Bubikopf und in Männerkleidung wieder auf. In ihrer Verkleidung gelingt es ihr, den Direktor Franz Schalk von ihren musikalischen Qualitäten zu überzeugen und sie wird als „Johann“ engagiert. Nun ist sie jedoch gefangen in ihrer Maskerade als Mann.
Sie beginnt, ein riskantes Doppelleben zu führen. Einerseits freundet sie sich mit ihren Mitbewohnerinnen in der Pension für Frauen an, in der sie unter ihrer wahren Identität wohnt, und erkundet mit ihnen das Wiener Nachtleben.
Die jungen Frauen machen sich schick und gehen ins Lichtspielhaus, wo Stummfilme mit musikalischer Begleitung eines drittklassigen Orchesters gezeigt werden.
Doch am Opernhaus kreuzen sich Johannas Wege immer wieder mit dem temperamentvollen brasilianischen Dirigenten Eduardo Breuer, der sich ihr in prickelnder Weise annähert und ihre Verkleidung zu durchschauen scheint. Gegen die Vernunft verliebt sich Johanna in ihren Kollegen und gerät immer mehr in einen emotionalen Zwiespalt.
Dieser spitzt sich zu, als sie in einer leidenschaftlichen Liebesnacht mit Eduardo schwanger wird. Ist sie wirklich bereit, ihre weiblichen Wünsche zu unterdrücken und alles ihrer aufstrebenden Karriere zu opfern?
Ich habe den Roman sehr gerne gelesen, denn die Geschichte der gefühlvollen Dirigentin Johanna hat mich stark bewegt: Couragiert, wie sie sich die Haare abschneidet und in Männerkleidung zwängt, um die Stelle als Assistent des Orchesterleiters an der Wiener Oper zu bekommen.
Ich habe Johannas Dilemma und Traum mitgefühlt. Die Autorin macht spürbar, warum das Dirigieren für Johanna so erfüllend ist. Beim Lesen war es faszinierend, solch einen lebendigen Einblick in die Kunst des Dirigierens zu gewinnen.
Ich konnte im Roman miterleben, wie Johanna mit feinem Gehör jedes Instrument wahrnimmt und anleitet und das Orchester zu magischen Klängen führt. Ich habe auch gestaunt über die Vorarbeit, eine Partitur zu studieren und eine klangliche Vision zu entwickeln.
Die bittersüße Liebesgeschichte mit dem feurigen Dirigenten Eduardo war für mich ein Wechselbad der Gefühle. Johannas Liebe zu dem unberechenbaren Brasilianer darf nicht sein, denn er ist verheiratet. Zudem haben Eduardo und seine Ehefrau tragisches „Gepäck“.
Alle drei Charaktere konnte ich in dieser verzwickten Konstellation gut verstehen. Mit dem Ausgang des Beziehungsdreiecks war ich zufrieden.
Das Thema Mutterschaft („Muss Johanna sich zwischen Kind und ihrer beruflichen Erfüllung entscheiden?“) fand ich einfühlsam und vielschichtig erzählt. Ich war an einigen Stellen zu Tränen gerührt. Herzerwärmend fand ich auch Johannas Freundschaft zu ihrer Mitbewohnerin Dana.
©Dorit Havel / Café Landtmann in Wien
Wien wird bildhaft beschrieben, so dass man sich alles bestens vorstellen kann, auch ohne die Donaumetropole selbst bereist zu haben. Die Opernbühne, die Kaffeehäuser und Salons werden so anschaulich geschildert, dass ich beim Lesen die Euphorie einer Aufführung spüren, den Duft des feinen Kaffees riechen und die leckeren Torten schmecken konnte!
Der Roman weckt den Wunsch, bald nach Wien zu reisen.
Wer die Oper liebt, kommt hier voll auf seine Kosten: Man spürt die Leidenschaft der Autorin für die klassische Musik und ihre Persönlichkeiten. Die Gesangsstars dieser Ära erhalten ihren glanzvollen Auftritt im Roman. Die Autorin hat hervorragend recherchiert – wahre Begebenheiten und witzige Anekdoten verwebt sie gekonnt mit der Handlung.
So bekommt die Star-Sopranistin Maria Jeritza als Tosca versehentlich von Scarpia einen Nasenstüber und singt deshalb ihr ergreifendes „Vissi d'arte“ tränenüberströmt auf dem Boden liegend.
Dies kommt beim Publikum so gut an, dass diese leidvolle Pose danach zu ihrem Markenzeichen wird.
Auch die „Goldstimme“ Richard Tauber düst mit seinem Mercedes am Haus am Ring vor und unterhält in der Kantine seine Kollegen mit einem (geschummelten) hohen C und „vertaubert“ sein Publikum als Tamino in der „Zauberflöte“.
Amüsant ist die „Spuckaffäre“ während einer Aufführung von Wagners „Die Walküre“, die sich tatsächlich so zugetragen hat und einen kleinen Skandal verursacht hat.
Zudem bekommt man authentische Einblicke in den Probenalltag, wenn Dirigentin Johanna beispielsweise bei einer Probe von „Don Giovanni“ am Cembalo Leporello begleitet und eine echte Wurst unter den Requisiten ihr Übelkeit bereitet.
Lebensecht kann man mit dem jungen Marcel Prawy (der im wahren Leben später ein renommierter Opernkritiker und Dramaturg wurde) in die Sicht eines Opernfans eintauchen, der die Aufführungen vom Stehplatz aus genießt und seinen geliebten Stars auch am Bühnenausgang und Backstage ganz nahe kommt. Historische Begebenheiten werden elegant in die Handlung eingeflochten:
So die umjubelte Rückkehr 1926 von Richard Strauss ans Dirigentenpult der Wiener Oper nach dem Zerwürfnis mit Co-Direktor Franz Schalk.
Als Lesende erleben wir die Aufführung aus Sicht des begeisterten Marcels mit, der sogar die kulinarischen Vorlieben seines Idols kennt: Hagebuttenmarmelade
Die Autorin hat auch den Zeitgeist im Wien der 1920er auf differenzierte Weise eingefangen. So zeichnet z. B. die Aufsehen erregende Premiere am Silvesterabend 1927 von „Jonny spielt auf“ (über einen amerikanischer Jazzband-Kapellmeister, der einem europäischen Virtuosen die Geige stiehlt) ein eindrückliches Bild dieser Zeit.
Denn die Oper des jüdischen Komponisten Ernst Krenek (1900-1991) ruft lautstarke Proteste aus Reihen der Nationalsozialisten hervor, die Flugblätter mit antisemitischen Parolen verteilen und die Aufführungen verbieten lassen wollen (was 1933 auch umgesetzt wurde). Die Figuren im Roman diskutieren dies.
Auch die historische Persönlichkeit Eugenia Schwarzwald (1872-1940), Pädagogin, Frauenrechtsaktivistin und Sozialreformerin, verkörpert eine wichtige Facette dieser Zeit.
Im Roman erleben wir einige schillernde Szenen in Schwarzwalds Salon und Mädchenschule.
Abgerundet wird der Roman mit einem sehr informativen Anhang zu den historischen Persönlichkeiten, die in der Geschichte vorkommen, und zu allen Opern und Musikstücken mit einer unterhaltsam zu lesenden Kurzzusammenfassung der Autorin – auch für Lesende zum Einstieg geeignet, die sich in der Opernwelt noch nicht so gut auskennen.
Mein Fazit: Ein Roman wie eine Oper: mit Sogwirkung zum Eintauchen und Schwelgen! Eine Geschichte voller Leidenschaft und dabei mit vielen Klangfarben und Zwischentönen. Große Leseempfehlung von Herzen.
Infos:
Der Roman ist 527 Seiten stark, ist am 10. Oktober 2023 als Taschenbuch und als eBook im Verlag Tinte & Feder erschienen und kann überall erworben werden, wo es Bücher gibt.
Wer mehr über Arabella Meran und ihre Romanwelten erfahren möchte, wird auf ihrem Blog fündig: www.ulrikearabella.de
Zur Rezensentin:
Dorit Havel ist promovierte Medien- und Literaturwissenschaftlerin, die hauptberuflich als Coach tätig ist. Als Essayistin und Journalistin schreibt sie über die Welt der Kunst, besonders schlägt ihr Herz für Literatur, Oper und Filme. Zuletzt hat sie in der „Federwelt“ (02/2024) den Artikel „Buchbloggerinnen: Feindinnen oder Verbündete der Autorinnen?
Vom Umgang mit Kritik“ veröffentlicht. In ihrer Freizeit liest sie am liebsten historische Romane über Frauen mit starker Persönlichkeit. Seit zwei Jahren ist sie als Buchbloggerin aktiv (@wortkosterin auf Instagram – wo sie gerne Roman-Szenen mit Playmobil visualisiert) und für verschiedene Autorinnen als Testleserin tätig.