Sensationeller Schwanengesang mit JOnas Kaufmann als "Doppelgänger in aufsehenerregender Bühnenproduktion

26. September 2023

Rubrik Konzert

©Park Avenue Armory

Aufsehenerregend! Provokant! Sensationsheischend! Dabei will doch das Kunstlied intim und unaufgeregt konsumiert werden! So wie noch vor 200 Jahren, als sich in adligen Salons zur Biedermeierzeit kleine Gesellschaftskreise um ein Pianoforte versammelten, um dem Künstler an der Klaviatur still und andachtsvoll bei seinem Vortrag zu lauschen.

 

Manchmal diente das kleine, verzückende Lied auch nur als untermalendes Stimmungsbarometer: Meistens dann, wenn der Hausherr oder eines seiner gebildeten Töchter selbst Hand an das Tasteninstrument legte, um eine gesellige Runde im Wohnzimmer am Kamin zu unterhalten - dezent, zurückgenommen und absolut unaufdringlich.

 

Denken wir heute an das Lied, so sehen wir einen üblichen Konzertsaal vor uns, nicht zu groß, nicht zu klein, aber immer noch intim wirkend genug, um den Klavierbegleiter und den Sängerinterpreten vom Auditorium aus genauestens beobachten zu können.

 

Jede mimische und gestische Regung, jedwede emotionale Temperatur, die über die Stimme transportiert und im Gesichtsausdruck ablesbar ist, scheinen dem passionierten Liedenthusiasten die wichtigsten Attribute zu sein.

 

Genau so ergeht es auch mir, wenn ich das Lied mit jeder meiner emotionalen Fasern erleben und durchdringen will. Ich muss so nah wie nur möglich an der Bühne sitzen, bestenfalls gleich in der ersten Reihe.

 

Dort ist die Resonanz unmittelbar, dort sehe und höre ich am besten. Genau dort nehme ich die emotionalen Schwingungen über den Gesang am deutlichsten und mit einer Intensität wahr, die überwältigend ist.

 

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

Das bedeutet, ich muss den Sängerinterpreten im Lied spüren, in seine Geschichte eintauchen können und mich mit ihm gemeinsam in seinem emotionalen Zustand auflösen dürfen. 

 

Aber diese Voraussetzungen schafft man nur in einem wirklich intimen Ambiente mit nur wenigen Zuhörern. Oder man sucht sich einen der besten Liedinterpreten, die dazu prädestiniert sind, auch in großen überdimensionalen Hallen gesangliche Vielschichtigkeit ins Publikum zu transportieren:

 

Jonas Kaufmann, der deutsch-österreichische Tenor tut genau das ziemlich erfolgreich in der Park Avenue Armory in New York vor einem exklusiven Publikum - und zwar dieser Tage bei einem einmaligen Event, das die Massen dort aussperrt, wo die große Welt nicht teilhaben kann. 

 

Dieses Spektakel, das den Namen "Doppelgänger“ aus Schuberts Schwanengesang trägt, ist mit Lichteffekten, Videoprojektionen, zusätzlichen Sound-Effekten sowie einer normalerweise unüblichen szenischen Gestaltung versehen und weckt Begehrlichkeit in Europa und im Rest der Welt.

 

Denn so einen unkonventionell und "Out-of-the-Box" kreierten Liederabend hat die Welt tatsächlich in dieser Form noch nie zuvor erlebt, zumal sich Jonas Kaufmann inmitten von 60 Lazarettbetten vokal behaupten muss.

 

Die Halle des Park Avenue Armory erscheint immens groß, vor allem flächig ausufernd. Und das Publikum sitzt nicht, wie gewöhnlich vor der Bühne, sondern links und rechts davon auf Tribünen.

 

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

Bei all der Aktion, die scheinbar mit sehr viel Distraktion einhergeht, denn auch Tänzer und andere Akteure, wie beispielsweise Krankenschwestern, beleben die Szenerie, erscheint es fast unmöglich, sich auf den Gesang und auf die reine Musik der Interpreten zu fokussieren.

 

Jedoch weit gefehlt: Jonas Kaufmann kann wunderbar Resonanzen herstellen, auch wenn er beinahe verloren im Bettenmeer untergeht. 

 

Und ob der räumlichen Dimensionen hat sein Vokalinstrument einen so sonor baritonalen Schmelz, der selbst, wenn er leise in sich zerfließt, immer noch mit Intensität und Saturation seine Zuhörer erreicht.

 

Überaus konturiert treten auch charakterstarker Ausdruck, Gestaltungsversatilität und dynamische Flexibilität zum Vorschein und runden durch irisierend weiche Klangfarben das stimmliche Profil des Ausnahmekünstlers ab, unabhängig davon, wo Herr Kaufmann gerade steht und singt.

 

Tatsächlich ist der Mann ein Vollblut-Liedsänger, eben weil er diese Kunst virtuos beherrscht und Wahrhaftigkeit im Lied zum Ausdruck bringen kann. Und das kann nun Mal nicht jeder.

 

Was nun in einer Halle, in der man sich verliert und fast schon verloren fühlt, akustisch schlecht projiziert werden kann, das muss ein Mikrofon zuweilen wett machen.

 

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

Befremdlich wirkt diese Art "Liederabend" dennoch, auch wenn der progressive Ansatz die Geschichte eines verwundeten und bald sterbenden Soldaten zu erzählen, ein Publikum dort abholen kann, wo es im Lied tatsächlich abgeholt werden muss, nämlich oftmals bei null.

 

Doch das "New Yorker" Konzept, Liederabende plastischer zu gestalten, ist nicht mehr neu, jedenfalls nicht, was andere Genres anbelangt.

 

So durfte ich erst kürzlich einem Chanson-Abend beiwohnen, der durch und durch erzählerische Elemente und Liedübergänge mit Sprache und musikalischen Überleitungen bildete.

 

Das war grandios, wenn nicht sogar genial. Nur braucht es dazu keine große Halle, kein Musiktheater und auch keine Schauspieler. Lediglich Klavierbegleitung und Sänger genügen.

 

Es geht nämlich so viel einfacher, dem Lied seine Bedeutung zurückzugeben, es in die Moderne zu überführen, wenn es ein Sänger tatsächlich schafft, mit seinem Publikum zu interagieren und ein Liedkonzept zu entwickeln, das auch dem gesprochenen Wort Gewichtung gibt und das Lied darüber hinaus kontextuell neu verhaftet. 

 

Man könnte beispielsweise Robert Schumanns Biographie in einem einzigen Liederzyklus so erzählen, dass man die innere und äußere Welt des Liedkomponisten mit all seinen vom Schicksal geprägten Lebensstationen versteht. Das "New Yorker" Konzept macht es in großen, vielleicht zu großen Dimensionen vor. Aber die Richtung ist grundsätzlich nicht verkehrt.

 

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

©Marion Rittershaus / Park Avenue Armory

Claus Guth versteht es jedenfalls, durch geschickt entfesselndes Regietheater dem Lied eine grundsätzlich neue Facette zu verpassen.

 

Konzentriert auf den Kern und durch schauspielerische Elemente aufgewertet, noch dazu verwoben in ein Handlungsgerüst, lassen sich so Lieder wie eine Lebensgeschichte erzählen, auch wenn das aus dem Lied niemals eine Oper machen wird, Regietheater hin oder her.

 

Wahrscheinlich muss man dieses Konzept sacken lassen. Noch viel besser wäre es allerdings, man könnte diese Aufführung des "Doppelgängers" auch demnächst in Europa erleben, um sich so ein konkreteres Bild davon zu verschaffen, auf wie viele Arten und Weisen das Lied perspektivisch zu neuem Leben reanimiert werden kann.


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