25. August 2023
Rubrik Jazz & Chanson
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
Édith Piaf, die Grande Dame des Chansons! Wer kennt sie und ihre unvergesslichen Melodien nicht? Zumindest "La vie en rose" hat man irgendwo und irgendwann schon einmal gehört. Dieses sehnsuchtsvolle Stück eines französischen Chanson-Klassikers, das einem die kalte Seele wärmt, sobald die ersten melancholisch durchwirkten Töne erklingen.
Doch das Chanson scheint lange passé. Es steht für ein nostalgisches Relikt musikalischer Vergangenheit, das man hin und wieder, wenn man denn einen Bezug dazu kultiviert hat, aus den Erinnerungen längst verblasster Tage hervorkramt. Immer dann, wenn Paris, die Stadt der Liebe, einen in Gedanken umarmt. Man könnte sich doch wieder auf eine Reise zur fremden Geliebten, auf den Weg zur schönen Unnahbaren begeben:
Paris, die Stadt mit ihren unzähligen Straßen-Cafés, den eigentümlichen Akkordeonklängen, die den Lokalkolorit auf das Bezeichnendste prägen und der pulsierend aufregenden Lebensart. Da verliert und verliebt man sich - wahrscheinlich sogar ganz hoffnungslos.
Auch mir ergeht es so. Nur nicht in Paris, sondern in Berlin, wo das Chanson an einem lauen, möglicherweise letzten Sommerabend eine ungeahnte Magie zu versprühen vermag:
In der Bar jeder Vernunft interpretiert der deutsche Schauspieler und Chansonnier Vladimir Kornéev das "französische Lied" der Chanson-Legende Édith Piaf und setzt der Unvergesslichen ein musikalisches Denkmal, das sich zurecht im veritabelsten aller Sinne "Hommage" nennen darf.
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
Musikalisch facettenreich und farbintensiv gestaltet der charismatische Künstler einen unvergesslichen Abend, der mit emotionalem Tiefgang versehen, das Publikum von Chanson zu Chanson immer deutlicher in einen hypnotischen Rausch katapultiert.
Sofort steigt man ein in die Lebensgeschichte der Édith Piaf, wobei Erzählkunst und Gesang eine formschöne Symbiose bilden. Diese Art der Liedgestaltung, die das gesprochene Wort mit einem "klaviertuosen" Klangteppich aus anschmiegsamen, obgleich dezenten Intros verheiratet und so elegante Überleitungen zu den musikalischen Darbietungen schafft, entführt den Zuhörer auf der Stelle in eine andere, noch völlig unentdeckt neue Welt. Es ist ein magischer Kosmos in sich, in den man eintreten darf, um sich in Faszination zu verlieren.
Man taucht ab und ein in die traurige, aufrührende und bewegende Geschichte einer Chanteuse, die zu Weltruhm kam und dennoch ein Leben voller schicksalhafter Entbehrungen lebte. Mit jedem Chanson, das den roten Faden durch die einzelnen Lebensabschnitte der Édith Piaf beschreibt, blickt das Publikum tiefer hinter die Fassade der Sängerin, die sich im Rampenlicht die Seele aus dem Leib sang und im Schatten ihrer persönlichen Tragödie ein abgrundtiefes Leid durchlebte.
Immer intensiver und emotionsgeladener spinnt sich der Abend fort. Und das liegt vor allem an der einfühlsamen Sensibilität, mit der Vladimir Kornéev sich der musikalischen Thematik auf das Intimste und Persönlichste annimmt.
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
Schmeichelnd sanft und mit charakterstarker Ausdruckskraft entstehen so kaleidoskopartige Geflechte tonaler Vielschichtigkeit, die dennoch durch schlichte Schönheit, schnörkellose Eleganz und einer Wahrhaftigkeit geprägt sind, dass man tief berührt den Stachel spürt, der gesanglich bittersüß die Seele bis auf den Grund durchdringt.
Mal leise, zurückgenommen und in sich gekehrt, dann wiederum laut schmetternd und strahlkräftig in die Welt getragen, mäandert das Vokalinstrument Kornéevs durch elegante, zartschimmernd kristallklare Höhen und sonore samtsatte Tiefen.
Mit einem angenehm weichen Timbre, einem ausgewogenen Vibrato, dass sich erst in raumgreifender Dynamik zeigt, changiert die Stimme mit äußerster Flexibilität zwischen Piano und Forte legatosicher auf vokal saturierte Höhepunkte zu - und all das mit Verve, Emotionalität und Wahrhaftigkeit.
Man kann nicht anders, muss zuhören, genauer hinhören und sich treiben lassen von der Geschichte, die so präsent und transparent wird, weil sie mit erfrischendem Esprit vom Chansonnier aufs Neue zum Leben erweckt wird.
Es sind Chanson-Arrangements, die faszinieren, insbesondere, weil sie die Brücke zwischen klassischen Musikfragmenten der Komponisten Rachmaninov und Chopin sowie Jazz lastigen Elementen schlagen. Eindeutig ist die künstlerische Handschrift Vladimir Kornéevs, der Originalarrangements aufbricht und das Chanson damit messerscharf konturiert in den Vordergrund treten lässt, strahlend wie einen feingeschliffenen Diamanten - edel!
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
©Barbara Braun / Bar jeder Vernunft
Noch während das Publikum zu voranschreitender Stunde an kleinen Tischen sitzend gebannt den irisierenden Klängen Vladimir Kornéevs lauscht, sich der Atmosphäre des intimen "Saals" hingibt, der irgendwie wie eine Mélange aus Zirkuszelt und französischem Caféhaus anmutet, wechselt der deutsche Interpret mit georgischen Wurzeln seine Wirkungsstätte vom Stehmikrofon hin zum Klavier.
Auch die Kunst, mit flinken Fingern über die Klaviatur zu gleiten und bezaubernde Klänge aus ihr hervorzulocken, gelingt dem Interpreten des Chansons formidable.
Kraftvoll und mit virtuoser Geschmeidigkeit tanzen die Finger nahezu schwerelos über das Tasteninstrument, produzieren berauschende Klangwogen, die im temporeichen Aufbegehren ausufernd voluminös und farbenreich in den kleinen Saal überschwappen.
Dann wird es plötzlich leiser und es erklingen mit zurückgenommener Anmut die ersten Töne, die erahnen lassen, dass es sich dabei um kein anderes Chanson als "La vie en rose" handeln kann. Wenn man dieses Konzert mit nur wenigen Worten beschreiben müsste, dann träfen Leidenschaft und Sinnlichkeit es wohl am besten.
Und auch die Eigenkomposition "Weitergehen" berührt zutiefst, erzählt sie doch von einem Verlust, der tonal verdichtet eine zerbrechliche Intensität zutage treten lässt.
Ein Kloß löst sich in mir und drängt mir die Kehle hinauf. Der Druck auf meine Tränendrüsen steigt und ich bin gewillt, meiner sich anbahnenden Tränenflut Raum zu geben.
Mit " Je ne regrette rien" bäumen sich schlussendlich noch einmal die ganz großen Gefühle auf. Das Ende einer Lebensgeschichte hallt triumphierend bis in die Gegenwart nach, noch lange nachdem der letzte Ton verklungen ist. Der Boden unter meinen Füßen schwankt, wird weggezogen. Es fühlt sich an, als würde ich, wenn auch nur wenige Zentimeter, über ihm schweben.
Noch nie war mir beim Klang eines Chansons so wunderbar selig und zugleich wehmütig zumute wie an diesem heutigen Abend!