Georg Nigl und Olga Pashchenko über den trost der kunst in einer eitlen Welt der Vergänglichkeit

26. Oktober 2022

Rubrik Konzert

©Daniel Dittus / Elbphilharmonie

Alles Eitle ist vergänglich. Doch was vermag die Kunst? Schon immer verstand es die Musik, ein Gefühl der Zeitgeschichte und des kollektiven Gemütszustandes einer Epoche, wie sie beispielsweise in der Romantik vorherrschte, für die Ewigkeit einzufangen.

 

Von Liebe, Vergänglichkeit, Leben und Tod erzählen die Werke Schuberts, Beethovens und Rihms an diesem Abend in der Elbphilharmonie, und kein anderer Liedinterpret wie der österreichische Bariton Georg Nigl vermag es, den Kern der tondichterischen Klangpoesien mit gesanglich interpretatorischer Genauigkeit zu füllen.

 

Begleitet von der Pianistin Olga Pashchenko, die bevorzugt auf alten Instrumenten spielt, entsteht eine knapp zweistündige musikalische Momentaufnahme, die zwar mit dem Vorbeirauschen der Töne genauso vergänglich wie alles andere im Leben erscheint und dennoch Bleibender als alles vergänglich Irdische ist.

 

Wie auch sonst wäre es möglich, den Werken Schuberts und Beethovens zu lauschen und eine emotionale Verbundenheit mit den Komponisten zu spüren, die über den Tod hinaus bis in unsere aktuelle Gegenwart reicht.

 

Musik überwindet Grenzen in Zeit und Raum, Musik baut Brücken, sogar in eine längst vergangene Epoche, die 200 Jahre zurückliegt und dennoch tonal um keinen Tag gealtert scheint.

 

©Daniel Dittus / Elbphilharmonie

Dass das so ist, mag ganz sicher auch daran liegen, dass Georg Nigl und Olga Pashchenko ihre sehr eigene Art haben, mit dem Liedgut aus der Klassik und der Romantik auf Tuchfühlung zu gehen.

 

Dabei versteht es der Bariton, in die emotionalen Tiefen eines jeden Stückes vorzudringen, es substanziell zu durchdringen und ihm somit Lebendigkeit, Gegenwärtigkeit, Kontur und damit Charakter zu verleihen.

 

Nicht einfach nur gesungen und dabei lediglich auf schlichten Schöngesang aus: Textverständlichkeit, rhetorische Erzählkunst, differenziert eingesetzte Dynamik und emotionale Vielschichtigkeit vermengt mit einer energetischen Ausdruckskraft sind die Zutaten, derer sich Georg Nigl so virtuos bedient, dass sein Publikum gleich von der ersten Sekunde an vollends in den Bann gezogen wird.

 

Man kann einfach gar nicht anders. Man muss zuhören und will verstehen, was da auf der Bühne Wort für Wort gesungen wird. Und das fühlt sich anders, neu und besonders an, spürt man doch eine intensive Leidenschaft, die auf der Bühne für das Lied entbrennt.

 

Erstaunlich erscheint mir auch, dass nicht ein einziger Liedzyklus durch unerwünschten Applaus durchbrochen wird. Auch das ist neu und lässt mich mutmaßen, dass ich an diesem Abend höchstwahrscheinlich von Liedexperten umgeben bin?

 

Ganz offensichtlich wohnt man einem Liederabend mit Georg Nigl bei, weil man genau weiß, dass ein Könner seines Fachs unterbrechende Zwischenlaute unterbinden kann, weil er es absolut versteht, seine Zuhörer im übertragenen Wortsinn stumm vor Staunen an den Stuhl zu fesseln?

 

©Daniel Dittus / Elbphilharmonie

So erlebt man Schuberts Forelle quicklebendig aus dem Bächlein schießen. Bilder entstehen vor dem inneren Auge, sie rauschen wie eine filmische Sequenz eines nach dem anderen an einem vorbei: Landschaften, Farben von erfrischenden Grüntönen, eisig klares Wasser, ein Bach, ein Fischer mit seiner Angel.

 

Gebannt lauscht man dem geschmeidig dahinfließenden Gesang, der so magnetisiert, dass sich die hypnotische Starre in einem erst mit dem Verklingen des letzten Tones löst.

 

Und auch die leisen Töne, die von hauchzarter Intensität auf magische Weise berühren, strahlen leuchtend, hell und kristallklar in das Auditorium.

 

Man hört genussvoll zu, nimmt jeden einzelnen Ton wahr, wenn Georg Nigl aus dem Lied eine wahrhafte Erzählkunst macht.

 

Doch was wäre der Gesang für sich alleinstehend, wenn nicht die klaviertuose Begleiterin dem Lied die nötige emotionale Temperatur verpassen würde? Und das auf einem alten Instrument, das deutlich wärmere und rundere Tönen produziert und anders als der moderne Konzertflügel auch einfach intimer klingt.

 

Genau das wird einem bewusst, als die Liedbegleiterin Olga Pashchenko kurz nach der Pause an das modernere Tasteninstrument wechselt.

 

Mit diesem Wechsel verbunden erlebt der Zuhörer plötzlich einen drastischen Sprung in ein zeitgenössisches Genre, hin zu einem Lied aus dem Entstehungsjahr 2019, das der Komponist Wolfgang Rihm eigens für Georg Nigl geschrieben hat.

 

©Daniel Dittus / Elbphilharmonie

Im "Vermischten Traum für Bariton und Klavier" werden auf einmal nicht nur tonale Grenzen überwunden, nein, die Musik gebärdet sich aufbegehrend, anklagend und rüttelt auch den letzten noch in seiner schubertschen Traumwelt verhafteten Geist wach.

 

"Was ist dies Leben doch? Was sind wir, ich und ihr? Was bilden wir uns ein! Was wünschen wir zu haben?"

 

Ein Schrei aus drei Fragen und einer Anklage wird laut, wirklich laut. Rihms Musik macht wach, rüttelt auf und bindet einen mit der ersten tonalen Wucht in einen musikalischen Gedankenstrom ein, der nahezu elektrisiert.

 

Allein der Text von Andreas Gryphius macht ein ganzes Fass voller Diskurse über das Leben, das Sein und das Nichtsein auf. Tonal potenziert sich dieser Effekt umso mehr, als dass uns die Musik dröhnend in den Ohren liegt und einfach nicht von ihren Zuhörern ablassen will.

 

Wir sollen nachdenken: Über uns, wer wir sind, was unsere Existenz ausmacht, was es bedeutet zu leben und zu sein!

 

Tja, und nun? Die musikalische Kost, die mir jetzt irgendwie schwer auf Geist und Gemüt schlägt, weil sie mich nicht mehr loslässt, muss später verdaut werden, denn zu guter Letzt legen uns Georg Nigl und Olga Pashchenko auf das interpretatorisch schönste die holde Kunst zu Füßen. Doch mit Schuberts "An die Musik" und "Abschied" ist es für das enthusiasmierte, begeisterungsstürmische Publikum längst noch nicht getan.

 

Drei Zugaben müssen her. Ansonsten kann der Applaus leider nicht verebben. Die Welt steht still, wird ruhig und sanft, will ruhen als Georg Nigl Schuberts "Wandrers Nachtlied" anstimmt. Aber auch nur so lange, bis der letzte Ton ausgesungen ist. Dann bricht sich die Begeisterung des Publikums ovationsstark Bahn.

 

Was für ein außerordentlich einzigartiger Liederabend.


©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper

Mit Pauken und trompeten: Die Barockoper L´Orfeo rockt das Publikum in der Wiener Staatsoper

Kann man sagen, dass diese über 400 Jahre alte Oper - die erste legitime musiktheatralische Version ihrer Gattung - überhaupt noch den aktuellen Zeitgeist trifft? Und wieso sollte sie auch nur im entferntesten Sinne epochale Welten überwinden?

 



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