Mörderischer Marathon mit Víkingur Ólafsson und den Goldberg-variationen in der Elbphilharmonie

25. Juni 2024

Rubrik Konzert

©Sebastian Madej

Verrückt scheint er nicht geworden, so wie sein virtuoser Kollege Igor Levit ihm einst prophezeite. Nach 100 Konzerten um die Welt und mit Bachs Goldberg-Variationen im Gepäck, gibt sich der international gefeierte Pianist Víkingur Ólafsson so souverän und "Laissez-Faire", als würde er das 70-minütige Hammerwerk Bachs mal so eben aus dem Ärmel schütteln. 

 

Leicht, geschmeidig und fluid klingt jeder Anschlag, jede Note, jeder Lauf, bei dem sich die feingliedrigen Finger des Pianisten in den weiß-schwarzen Tasten aufzulösen scheinen.

 

Von Nicole Hacke

 

Der junge Mann, der wie ein Pennäler wirkt, so wie er da mit glattgekämmten Haaren und geschniegeltem Anzug brav und mit hochkonzentrierter Miene die Klaviatur strebsam beackert, ackert wahrlich im voran preschenden Rhythmus der atemberaubenden Musik und wirkt, als würde er dabei nicht eine einzige Schweißperle vergießen.

 

Nicht zu bremsen, nicht aufzuhalten ist sein Spiel, das sich in weiten Teilen von Bachs gigantischem Werk in temporeicher Ekstase verliert. Bemerkenswert wie der junge Künstler sich scheinbar unaufgeregt und vor allem unaffektiert seiner grandiosen Darbietung hingibt. Keine einzige Attitüde, kein übertrieben gestenreiches Pianisten-Gebaren, das auch nur im Geringsten von der strahlend lebendigen Interpretation ablenken könnte.

 

Rauf und runter, rauf und runter eilen die flinken Finger klaviertuos über die Tastatur des Steinway Flügels, der an diesem herausragenden Abend neben Ólafsson eine ganz besondere Rolle spielt.

 

©Sebastian Madej

Mit einem hochsensiblen Sensor ausgestattet ermöglicht die Steinway Spirio Klavierserie erstmals ein digitales Musikerlebnis, das durch die Mauern der Elbphilharmonie in die Welt und in Wohnzimmer getragen wird.

 

Es ist der erste Stream eines Live-Konzerts, das per Spiriocast-Technologie all jene Besitzer eines Flügels in intimer Heimatmosphäre erreicht, so als ob Víkingur Ólafsson dort persönlich zugegen wäre - ein Klangerlebnis der Dreidimensionalität, in Superlativen kaum noch zu überbieten.

 

Doch nicht nur diese sprachlos machende Ankündigung des Konzertveranstalters und der Geschäftsleitung von Steinway & Sons, machen diesen Abend so unverwechselbar einzigartig.

 

Nein, vielmehr ist es die Hingabe, mit der Ólafsson sich mit jeder Faser seines Seins in die monumentalen Untiefen der respekteinflößenden Goldberg-Variationen stürzt.

 

Tatsächlich vergräbt sich der Mann am Flügel in diese variantenreiche Musik, die keine Melodik erkennen lässt, sondern vielmehr einem reißenden Strom durchmodulierter Klangkaskaden ähnelt.

 

Es überschlagen sich schier die Tasten, ob der im austarierten Wechsel mal rasant, dann wieder langsam und mit Bedacht ausgeführten Passagen.

 

Plötzlich aber, von einer Sekunde auf die Andere, fliegen die Finger sofort wieder ohne Punkt und Komma flugs und schneller als es die Resonanz vermag von Variatio zu Variatio. Hinreißend, mitreißend, wobei einem irgendwann ein wenig schwummrig im Kopf wird.

 

©Sebastian Madej

©Sebastian Madej

©Sebastian Madej

30 Variatio und zwei Arien, die sich Víkingur Ólafsson in 70 Minuten ohne Pause erobert  - und noch dazu ohne Partitur. Gott gütiger Himmel. Wie macht er das bloß? Und wie viele  tausende von Noten muss man sich dabei zuerst in den Kopf hämmern, bevor man sie so virtuos auf die Tastatur transportieren kann?

 

Das alles ist ein absoluter Geniestreich, meisterhaft und größer als vieles, das wir für unmöglich halten und das doch möglich ist. Kunst ist größer und - so wie am heutigen Abend -einfach nur unbegreiflich.

 

Genau das spürt auch das Publikum. Es spürt, dass auf dem Podium etwas ganz Magisches passiert und erkennt den Mount Everest der Musik, den Ólafsson mit den Goldberg-Variationen siegreich erklimmt.

 

Wie ein Hochleistungssportler, der er schließlich auch ist, wird er, nachdem der letzte Ton einer Erlösung gleichkommt, frenetisch bejubelt. Ja, es geht ein brandungsintensives Toben durch das Auditorium. Es kracht wie eine überwältigend mächtige Welle auf ihn hernieder.

 

Was für ein wärmendes Gefühl, rauschhaft, aber auch sehr berührend. Glasklar ist die Meinung des Kollektivs darüber, was Ólafsson mit seiner Musik vollbracht hat:  Ein wahres Wunder!

 

Mit einer Dankesrede, die der Pianist nicht so ausschweifend geplant hatte, verabschiedet sich Víkingur Ólafsson in die atmosphärische Sommernacht. Beim Verlassen des Foyers wirft die rotgoldene Sonne ihre letzten Strahlen auf die graublaue Elbe, bevor sie im Häusermeer der Stadt versinkt.

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