28. Juni 2023
Rubrik Interviews
©Vahan Stepanyan
Altistinnen haben in der klassischen Musikbranche Seltenheitswert. Doch Seda Amir-Karayan demonstriert bei ihren Konzerten, dass genau ihre warmgolden glänzende Stimme im Lied- und Oratoriengesang wunderbar aufgehoben ist und noch dazu einen ganz besonderen Nerv beim Zuhörer trifft.
Die aus Armenien stammende Sängerin studierte zuerst Jazzgesang und Musikwissenschaften, bevor es der Zufall so wollte, dass die charismatische Persönlichkeit in der Klassikbranche ihre musikalische Heimat fand.
Was Seda Amir-Karayan ganz besonders auszeichnet, ist die ungewöhnliche Art, wie sie sich mit dem Liedgesang und ihrem Publikum auseinandersetzt. Sprudelnd und immer ganz spontan moderiert die eloquente Künstlerin ihre Liederabende an, erzählt die Geschichten hinter den Gedichten mit so viel leidenschaftlicher Verve, dass man sich als Zuhörer der Aura ihrer Liedinterpretationen nicht entziehen kann und verzaubert in die Welt der Liedkunst eintaucht.
Und das zwei Herzen, ach, in ihrer Brust schlagen, merkt man just dann, wenn Seda Amir-Karayan die armenischen Volksweisen des Komponisten Komitas zum Besten gibt und damit eine unverwechselbare Brücke aus ihrer emotionalen Heimat in die der deutschen Seelen schlägt: Eine völlig einzigartige Seelenarchitektur, die sich als absolutes Alleinstellungsmerkmal ihres Gesanges in all ihren Liedinterpretationen ausdrückt.
Operaversum: Liebe Frau Amir-Karayan, welches Schlüsselerlebnis ist Ihrem Wunsch eine Gesangskarriere in der klassischen Musikbranche zu machen vorausgegangen?
Seda Amir-Karayan: Wirklich bewusst entschieden habe ich mich für eine Karriere in der klassischen Musikbranche nicht, denn in Armenien war ich schon sehr früh eine gefragte Sängerin. Dort habe ich im Kloster Geghard, das als UNESCO Welterbe zu den bedeutendsten apostolischen Kirchen Armeniens zählt, acht Jahre im Frauenensemble armenische Sakralmusik gesungen (Frauenchor mit 8 Stimmen) und diese auch über die Grenzen meiner Heimat hinaus in die Welt verbreitet.
Für den klassischen Gesang entdeckt wurde ich dann tatsächlich 2010, als ich mit dem Chor im Kloster Geghard einen der vielen sonntäglichen Gottesdienste gesungen habe und eine deutsche Delegation bestehend aus Geschäftsleuten zufällig zugegen war, die großes Interesse für Land, Leute und Kultur bekundete.
Ernst-Ludwig Drayß war einer dieser Geschäftsmänner, der aus Liebe zu meiner Heimat zweimal im Jahr in Armenien aufschlug und einige andere Geschäftspartner mit auf Reisen nahm. Unter ihnen befand sich auch der Unternehmer Johannes Kärcher, der mich an einem Sonntag dort zufällig die Soli singen hörte.
Nach dem Gottesdienst kam dieser weißbärtige Herr auf mich zu und insistierte, ich müsse unbedingt Bach singen, was mich sehr verwirrte und auch irritierte. Natürlich kannte ich die Musik Bachs in- und auswendig. Schließlich hatte ich Musikwissenschaften studiert. Aber dass ich sie auch würde singen können, erschien mir zum damaligen Zeitpunkt völlig abwegig.
Doch Johannes Kärcher, der zudem einer der größten Sponsoren der Bach-Akademie in Stuttgart ist, ließ nicht locker und versuchte mich immer wieder von meiner wunderbaren Altstimme zu überzeugen. Da ich aber viel zu beschäftigt mit meinem Masterabschluss über armenische Sakralmusik war, ruhte das Thema Bach bis zu dem Tag, an dem ich nach Deutschland kam, um eine CD mit armenischen Liedern aufzunehmen.
Just während der Aufnahmesitzungen erhielt ich plötzlich einen Anruf von Herrn Kärcher, der mich bat, bei den Meisterkursen in der Bach-Akademie vorzusingen. Aber ohne ein klassisches Repertoire vorweisen zu können, nur mit meinem Gesangsstudium der Jazzmusik im Gepäck, glaubte ich, dort nicht landen zu können.
Operaversum: Ach so! Sie haben Jazz-Gesang studiert!
Seda Amir-Karayan: Ganz genau. Letztendlich habe ich aber an der Bach-Akademie vorsingen dürfen, denn dort war man der Meinung, dass ich mit einer echten Altstimme - auch ohne klassisches Repertoire - überzeugen könne.
Und bei diesem Vorsingen bin ich der international renommierten Sopranistin Helen Donath begegnet, die sofort von mir begeistert war. Dann ging plötzlich alles sehr schnell. Von heute auf morgen musste ich mein Leben in Armenien, meine Eltern, meine Freunde, mein Publikum und meine Karriere zurücklassen.
Das hat eine ganze Menge auf den Kopf gestellt. Und innerhalb von nur 6 Wochen habe ich auch noch Deutsch gelernt, damit ich mein Gesangsstudium aufnehmen konnte. Wissen Sie, Frau Hacke, ich hatte schon zwei Master in der Tasche und musste neben all den Abiturientinnen noch mal ganz von null anfangen.
Operaversum: Das klingt nach einer wirklich großen Herausforderung!
Seda Amir Karayan: Das war es auch. Ich erinnere mich noch genau, wie eine der Studentinnen damals zu mir sagte: "Ach, du bist das also, die so alt ist?" Schlagfertig wie ich bin, konterte ich sofort: "Ja! Ich bin tatsächlich kein Sopran." Das war sehr lustig, aber insgesamt auch eine sehr herausfordernde Zeit. Ich habe wirklich etwas gewagt, weil ich auch großen Respekt vor der klassischen Musik hatte.
Tag und Nacht habe ich damals geübt, bis mich der Pförtner oftmals gegen 3 Uhr nachts aus der Hochschule rausschmeißen musste. So viel gab es für mich aufzuholen: das Repertoire, das Perfektionieren der deutschen Sprache. Und alle Altpartien, die anstanden, musste ich singen.
Das war wie ein Sprung ins kalte Wasser. Ich weiß noch ganz genau, wie ich am 16. Oktober 2011 mein Studium in Deutschland aufgenommen und gleich am 4. Dezember desselben Jahres meinen ersten "Messias" gesungen habe. Alles ging so schnell. Und natürlich habe ich immer so hart geübt und stetig an mir gearbeitet, dass ich keine Partys feiern konnte. Mein Leben hat sich wirklich um 180 Grad gedreht.
Operaversum: Nun haben Sie Ihren künstlerischen Fokus auf den Liedgesang und die Kirchenmusik gesetzt. Tatsächlich haben Komponisten wie beispielsweise Bach sehr viele Werke für Altistinnen geschrieben.
Was fasziniert Sie so sehr am Lied- und am Oratoriengesang? Kämen Opernrollen für Sie ebenfalls infrage?
Seda Amir-Karayan: Letztendlich ja, denn in der Hochschule haben sie für das Opernfach händeringend nach einer tiefen Stimme gesucht und wären dort sogar bereit gewesen, mich in ihren Kreis aufzunehmen. Allerdings habe ich mir das damals sehr gut überlegt, mich lange mit meinem Professor ausgetauscht und mich dann aber gegen die Oper entschieden, zumal ich dort auch wieder bei null angefangen hätte und tatsächlich nur Hosenrollen für mich in Frage gekommen wären.
Mein Schwerpunkt ist eindeutig der Lied- und Oratoriengesang. In dem Genre kann ich mich künstlerisch voll und ganz entfalten und brauche mich nicht wie in der Oper von den Regieanweisungen eines Opernregisseurs abhängig zu machen. Ich liebe die künstlerische Freiheit insofern, als ich machen kann, was ich möchte. Und das ist mir wichtig. Da kann ich aus meiner kreativen Fülle schöpfen. Denn warum machen wir sonst Musik?
Aber um nochmals auf das Thema Oper zurückzukommen. Tatsächlich habe ich in Händels Barockoper "Giulio Cesare" gesungen und erst kürzlich in zwei Uraufführungen von Barockopern mitgewirkt, die neu entdeckt wurden.
©Vahan Stepanyan
Operaversum: Frauenliebe und -leben! So hieß der Programmtitel Ihres Liedrepertoires, das Sie vor einiger Zeit in der Elbphilharmonie zum Besten gegeben haben. Und Sie haben dort Werke von Clara Schumann interpretiert.
Frauen in der Musikgeschichte wurden meistens von den musikalischen Herren der Schöpfung verdrängt.
Was fasziniert Sie insbesondere an Clara Schumann?
Seda Amir-Karayan: Clara Schumann hatte ein unglaublich musikalisches Talent. Viele würden es auf eine Gottesgabe zurückführen wollen. Doch meiner Meinung nach war sie vor allem eine enorm fleißige Frau, die in ihrer Zeit und unter den damaligen Lebensverhältnissen für ihren Mann Robert Schumann und sich privat wie beruflich alles möglich gemacht hat.
Ganz besonders aber fasziniert mich die Liebesgeschichte, die sich wohl zwischen Clara Schumann und Johannes Brahms entwickelt haben soll, obgleich man nicht genau weiß, was und wie viel davon wirklich stimmt.
Bemerkenswert sind aber tatsächlich all die kreativen Projekte, die Clara zusammen mit Robert Schumann auf die Beine gestellt hat. Und ganz nebenbei hat sie es geschafft, auch noch auf internationale Konzerttournee zu gehen. Ganze 1000 Konzerte hat sie gespielt, sich als Mutter bewiesen und einen fantastischen Karrierewege als Künstlerin beschritten. Und das in einer Zeit, in der für Frauen vieles deutlich schwieriger war, als es heute der Fall ist. Clara Schumann war für die damalige Zeit eine extrem moderne und progressive Frauenpersönlichkeit, die mit ihrem Charme und ihrem Talent in männliche Domänen vorgedrungen ist und alle davon überzeugt hat, dass sie wirklich etwas kann.
Wenn man bedenkt, dass Frauen in Deutschland noch vor 50 Jahren ihren Ehemann um Erlaubnis fragen mussten, wenn sie arbeiten gehen wollten, dann war Clara Schumann für die damaligen Verhältnisse eine absolut moderne Frau.
Operaversum: Da kann ich Ihnen nur zustimmen. Und deshalb finde ich, man sollte Clara Schumanns Werke auch viel öfter aufführen, oder?
Seda Amir Karayan: Ich denke auch! Deshalb habe ich das Thema "Frauenliebe und -leben" ausgewählt, zumal ich den Zyklus wunderschön finde und er das zeitlose Thema der Liebe in den Vordergrund stellt, mit dem wir uns nach wie vor identifizieren können. Menschen verändern sich nämlich nicht. Sie kommen und gehen. Sie leiden Hunger, erleben Kriege oder gesellschaftliche Umbrüche. Aber sie bleiben als Menschen im Kern gleich, brauchen Luft, Wasser, aber eben auch Liebe zum Leben.
Operaversum: Das haben Sie sehr schön gesagt! Lassen Sie uns noch ein bisschen genauer in den Liedgesang einsteigen: Lieder passen eigentlich perfekt in den hektischen Alltag der Gegenwart. Sie erzählen auf komprimierte Weise eine Geschichte innerhalb weniger Minuten. Und dennoch hat es dieses "Nischenprodukt" auf dem klassischen Markt schwer, breitstreuende Popularität zu erlangen.
Was macht für Sie die Einzigartigkeit und den Zauber des Liedgesanges aus?
Seda Amir Karayan: Das Lied bildet für mich eine perfekte Symbiose zwischen Poesie und Musik. Es ist unglaublich ausdrucksstark und bringt in kürzester Zeit eine Geschichte auf den Punkt, für die man in einer Oper wie beispielsweise "Carmen" drei Stunden benötigt.
Und das Faszinierende an einem Liedzyklus wie "Frauenliebe und -leben" ist natürlich auch, dass man innerhalb dieser 25 Minuten eine komplette Biografie erzählen kann. Schwierig ist es für den Liedinterpreten nur, dass man diese auf den Punkt komprimierten Geschichten und Biografien mit einer Intensität in das Auditorium transportieren muss, damit das Publikum die Bedeutung, die Emotionalität und letztendlich den Inhalt nachvollziehen und verstehen kann.
Operaversum: Und welche stimmlichen und persönlichen Attribute braucht es, um das Lied so zu interpretieren, dass es seine Zuhörer in den Bann ziehen und begeistern kann?
Seda Amir Karayan: Meine Einstellung war bisher immer: Egal, was ich singe, ich muss daran glauben und davon überzeugt sein, was ich meinem Publikum erzähle. Ansonsten brauche ich es erst gar nicht zu versuchen. Das bedeutet, wenn ich an Liedern arbeite, spreche ich zuerst die Geschichte laut nach, beziehungsweise trage mir die jeweiligen Gedichte mit Betonung so vor, dass man sie inhaltlich und emotional versteht.
Erst ganz zum Schluss kommt dann der Gesang dazu, denn für mich ist der Text das Bild und die Musik der komplementierende Bilderrahmen. Ohne Text könnte die Musik ihren Charakter nicht entfalten. Demnach ist der Text eine ganz wichtige Komponente im Lied. Natürlich gibt es auch ganz viele Schubert-Werke, die mit Geige oder Flöte auf verschiedenste Art und Weise interpretiert werden können. Doch sobald ein Werk mit einem dazugehörigen Text in Form eines Gedichtes versehen ist, kann ich die Musik nicht mehr auf tausend unterschiedliche Arten interpretieren, denn dann habe ich es mit etwas ganz Konkretem zu tun.
©Vahan Stepanyan
Operaversum: Konkret bedeutet, Sie interpretieren das Lied mit Ihrer eigenen Persönlichkeit, mit Ihren höchst individuellen Gefühlen?
Seda Amir-Karayan: Absolut. Das Lied wird erst durch mich zum Leben erweckt und entfaltet seine Wirkung durch meine Gefühle und die Art und Weise, wie ich lieben würde. Nur so kann ich das Lied überzeugend erzählen. Nur dann kann man mir auch glauben, was ich erzähle.
Operaversum: Tatsächlich ist es auch für mich unglaublich faszinierend, wie ein Sänger seine Gefühle über das Lied ausdrückt, sie über die Worte und die Musik so ehrlich und authentisch transportiert. Das haben Sie wunderschön gemacht.
Und was mich auch wirklich sehr angesprochen hat, sind Ihre Entertainment-Qualitäten, mit denen Sie es in der Elbphilharmonie geschafft haben, das Publikum nachhaltig zu begeistern.
Normalerweise ist das bei einem Auftritt so gar nicht üblich. Sie aber haben sich über diese Schranken hinweggesetzt.
Glauben Sie, Frau Amir-Karayan, dass in der klassischen Musikbranche die Solisten, insbesondere die Sänger, auch Entertainment-Qualitäten haben sollten, um mehr Menschen für das Genre zu vereinnahmen? Wird das die Zukunft des Liedgesanges sein?
Seda Amir-Karayan: Ja! Ich denke, das ist sogar notwendig. Man muss Liederabende genau so gestalten, um die Berührungsängste vor diesem Genre ein für alle Mal aufzubrechen. Warum haben denn die Leute so viel Respekt vorm Liedgesang? Ich für meinen Teil habe da meistens dieses Bild von einem Sänger vor Augen, der ernst und ein bisschen steif auf der Bühne steht, sich verbeugt, sein Programm heruntersingt, um dann mit hocherhobenem Haupt wieder von der Bühne abzutreten.
Und um genau diese Steifheit aufzubrechen, habe ich angefangen, Liederabende anzumoderieren. Diese Herangehensweise ist mir relativ früh bewusst geworden, als ich auf der Schwäbischen Alb kurz vor meiner Bachelorprüfung in einer psychiatrischen Klinik für einen kleinen Kreis von Zuhörern singen wollte.
Ich war auf einen ganz regulären Liederabend eingestellt. Doch als ich dort ankam, musste ich feststellen, dass ich die Aufmerksamkeit der teils geistig behindert Menschen nicht durch einen sturen Ablauf auf mich lenken würde, sondern eine eher unkonventionelle Herangehensweise für meinen Liederabend benötigte, um die eineinhalb Stunden überhaupt füllen zu können.
Und so habe ich mich spontan vor Ort dafür entschieden, das Programm komplett umzuschmeißen und Stücke auszuwählen, die meine Zuhörer verstehen würden. Denn ansonsten wären diese Menschen aufgestanden und gegangen. Sie hatten nämlich absolut keine Ahnung, was ich da mache. Also habe ich kurzfristig Stücke neu ausgewählt, unter anderem "Gretchen am Spinnrad". Meinen Liedbegleiter habe ich instruiert, das Geräusch eines sich drehenden Spinnrades, so wie es vom Komponisten musikalisch umgesetzt worden ist, darzubieten. Und siehe da: Plötzlich erhellten sich die Gesichter meiner Zuhörer. Ich merkte, dass sie verstanden, was ich da mache und worüber ich singe.
Operaversum: Also haben Sie diese Menschen mit Ihren moderatorischen Fähigkeiten abgeholt und auf Ihre charmante Art in die Liedgeschichten einbezogen?
Seda Amir-Karayan: Ganz genau! Ich habe diese Menschen da nicht einfach so mit meinem "Schöngesang" sitzen lassen, sondern Ihnen erklärt, was in den jeweiligen Liedern inhaltlich passiert. Und das Besondere daran war, dass mir eine Frau nach dem Konzert aus Dankbarkeit für den besonderen Abend ein kleines Döschen geschenkt hat. Das war so rührend. Seitdem wusste ich, ich muss mit den Leuten sprechen und interagieren, wenn ich Sie für das Lied begeistern will. Es gibt tatsächlich kein Konzert, wo ich das Publikum nicht unterhalte. Mit kleinen Witzen und Anekdoten hole die Zuhörer so ab, dass sie sich anschließend voll und ganz auf das Lied in seiner allumfassenden Gesamtheit konzentrieren können. Schließlich ist das eine schwere Kost, Texte von Schiller oder Goethe durchzuholen, insbesondere, wenn man mit der Sprache dieser Dichter nicht wirklich vertraut ist.
Und das Faszinierende ist, dass ich nach all meinen Anmoderationen, die den Maßstab für meine Liederabende setzen, auch selbst ganz anders singe. Zwar ist es manchmal sehr anstrengend für meine Stimme im Konzert sowohl zu singen als auch zu sprechen. Trotzdem gehe ich dieses Risiko ein.
Operaversum: Das klingt sehr vielversprechend und sehr zukunftsorientiert. So kann man Liederabende wirklich interessant gestalten.
Seda Amir-Karayan: Das hoffe ich doch. Viele in meinem vertrauten künstlerischen Umfeld raten mir zwar, bei meinen Liederabenden nicht so viel zu sprechen, auch weil sie davon ausgehen, dass alle doch verstehen müssten, worum es im Lied geht. Aber natürlich entspricht das nicht der Realität. Es gibt ein Fachpublikum und es gibt auch Musikverständige, die jede Woche einen Liederabend aufsuchen oder gerne auch abends mal ein paar Seiten Goethe-Gedichte lesen. Doch in der Regel haben wir es mit einem Publikum zu tun, dass sich nicht so eingehend mit dem Lied-Genre befasst. Und wenn wir genau diese Zuhörer an dieses Genre binden wollen, indem wir das Lied sozialisieren, macht es tatsächlich einen ganz großen Unterschied, ob man als Zuhörer versteht, was auf der Bühne passiert oder nicht.
Operaversum: Auf Ihrer Debüt-CD "Wehmut" singen Sie Lieder von Mahler, Schumann und dem armenischen Komponisten Komitas: eine äußerst interessante Kompilation.
Was bedeuten Ihnen die Volkslieder aus Ihrer Heimat und was möchten Sie damit ausdrücken und ins Publikum transportieren?
Gibt es ein Lied von Komitas, das Ihnen besonders am Herzen liegt?
Seda Amir-Karayan: Oh ja. Es gibt ganz viele Lieder von Komitas, die mir am Herzen liegen. Aber ganz besonders liebe ich das Wiegenlied, das ich auch als Zugabe in der Elbphilharmonie dargeboten habe. Mir war es an dem Abend sehr wichtig, Komitas zu singen, denn in dieser Musik spiegelt sich meine armenische Identität wider.
Und selbstverständlich war mir wichtig, dass das Publikum auch die armenischen Volkslieder kennenlernt und versteht, warum ich die deutschen Lieder so singe und interpretiere, wie ich das nun mal tue. Letztendlich schlage ich eine Brücke zwischen Armenien und Deutschland, den zwei Identitäten, die mich mittlerweile als Mensch ausmachen, denn in Armenien bin ich geboren, aber in Deutschland lebe ich und fühle mich hier auch zu Hause.
Mit dem armenischen Repertoire wollte ich meine Herkunft aufzeigen, damit der Zuhörer versteht, wo meine emotionale Welt eigentlich entspringt und wie sie sich in der deutschen Musik beziehungsweise im deutschen Lied ausdrückt. Das ist, wenn Sie so wollen, meine Seelenarchitektur oder anders gesagt mein absoluter Wiedererkennungswert.
©Vahan Stepanyan
Operaversum: Apropos Wiedererkennungswert: In einer Welt, in der die sozialen Medien mittlerweile als eierlegende Wollmilchsau gepriesen werden, ohne die irgendwie gar nichts mehr zu gehen scheint, welche Rolle nehmen Sie darin ein? Muss ein Sänger sich als Personenmarke etablieren oder darf er einfach nur als Diener seiner Kunst agieren?
Seda Amir-Karayan: Das kann ich so einfach gar nicht beantworten. Manchmal kommt mir sogar der Gedanke, dass ich für die sozialen Medien schon zu alt bin und diese einer anderen Generation zuzuordnen sind. Ich ticke einfach nicht so, dass ich morgens aufwache und mein erster Gedanke dem Erstellen eines Posts gilt. Ich selbst bin auch gar nicht so aktiv in den sozialen Medien unterwegs, höchstens hin und wieder mal vor einem Konzert.
Aber ganz sicher kann man aus dieser modernen technologischen Entwicklung sowohl Gutes als auch Schlechtes ziehen. Ich persönlich sehe einerseits die Gefahr darin, dass man als Künstler auf den sozialen Medien ein Bild von sich kreiert, dass so nicht existiert, beispielsweise, wenn man mit Filtern arbeitet, um schön und makellos auszusehen. Andererseits denke ich, dass man genau diese Hemmschwelle, sich eben nicht zu inszenieren, überwinden muss, um auf authentische Art und Weise eine sozial-mediale Präsenz zu kultivieren. Damit kann man sicherlich im positiven Sinne Musikliebhaber und Fans auf seine Kunst aufmerksam machen.
©Vahan Stepanyan
Operaversum: Bitte vervollständigen Sie folgenden Satz: Singen ist....
Seda Amir-Karayan: ...mein Leben! Singen ist mein Ein und Alles. Wirklich! Ich singe schon, seit ich sechs Jahre alt bin. Unseren ganzen Hof habe ich als Mädchen mit meinem Gesang unterhalten. Wissen Sie, Frau Hacke, ich war ein sehr lebendiges Kind, habe meine Oma, die Ärztin war, auf ihren Patientenvisiten begleitet und wollte bereits im Kindergarten die Erzieherin mimen, weil es mir dort ansonsten viel zu eintönig geworden wäre. Überall war es mir furchtbar langweilig, wohl auch, weil ich schon lesen konnte, bevor ich überhaupt eingeschult wurde.
Immer war ich sehr aktiv und hatte wahnsinnigen Spaß am Singen. Ich war sechs Jahre alt, als ich in den sowjetischen Rundfunkchor aufgenommen wurde. Damals wusste ich schon, was es bedeutet, auf der Bühne zu stehen und mit dem Publikum zu interagieren.
Operaversum: Liebe Frau Amir-Karayan, was wünschen Sie sich für die Zukunft. Gibt es Herzensprojekte, die Sie in nächster Zukunft unbedingt noch angehen wollen?
Seda Amir-Karayan: In Japan möchte ich unbedingt noch singen. Das war ursprünglich auch so geplant. Aber generell schmiede ich keine allzu großen Zukunftspläne, denn es gab schon Situationen in meinem Leben, da habe ich gedacht, wenn ich zu viel plane, passiert am Ende nichts. Vielmehr vertraue ich auf das Geschick, dass sich die Dinge im Leben fügen und alles gut wird. Daher versuche ich auch nicht, zu viel in die Zukunft zu planen. Auf Russisch gibt es ein Sprichwort: Der Mensch denkt und Gott lenkt!
Abgesehen davon weiß ich natürlich schon, was ich in zwei Jahren singe und in welchen Häusern ich auftreten werde. Aber über diese berufliche Planung hinaus versuche ich das Planungsrad nicht weiter zu drehen. Was so viel wichtiger ist, gerade in der heutigen Zeit, dass man sich das Jetzt und Hier vergegenwärtigt und versucht, darin zu leben. Viel zu oft badet man entweder in der Vergangenheit oder man schmiedet Zukunftspläne, anstatt sich ein bisschen mehr in der Gegenwart zu verlieren.
Operaversum: Das sind sehr sinnige abschließende Worte, Frau Amir-Karayan. Ich bedanke mich recht herzlich für das tolle Gespräch mit Ihnen und wünsche Ihnen besonders schöne gegenwärtige Momente und viele tolle Konzerterlebnisse.
©Sandra Wolf
Seda Amir-Karayan ist eine international gefragte Konzertaltistin und Liedsängerin. Sie trat u.a. in der Berliner Philharmonie (Weihnachtsoratorium, Matthäus-Passion, Messiah, …), in der Kölner Philharmonie (Johannes-Passion, Brahms’ Alt-Rhapsodie, Regers Requiem, Szymanowskis Stabat Mater, Tippetts A Child of Our Time, …), im Konzerthaus Berlin (Mozarts Requiem und Beethovens 9. Symphonie), bei der Bachwoche Stuttgart (H-Moll-Messe), beim Rheingau Musik Festival (Paulus) und beim Musikfest Stuttgart auf und arbeitete mit namhaften Dirigenten wie Helmuth Rilling, Hans-Christoph Rademann, Alessandro De Marchi, Enoch zu Guttenberg, Denis Rouger, Kay Johannsen, Jörg Halubek, Fritz Krämer, Achim Zimmermann, Etta Hilsberg oder Horst Meinardus.
Sie musizierte mit renommierten Klangkörpern, darunter die Stuttgarter Philharmoniker, L’arpa festante, die Bayerische Kammerphilharmonie, Stiftsbarock Stuttgart und das Freiburger Bachorchester.
2020 erschien ihre Debüt-CD Wehmut mit dem Pianisten Götz Payer beim Label Spektral.
Seda Amir-Karayan studierte Konzertgesang mit Schwerpunkt Oratorium und Lied (Masterabschluss mit Auszeichnung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart bei Professor Ulrike Sonntag).
Während des Studiums gewann sie beim Podium Junger Gesangssolisten in Zwickau den 1. Preis. In Würdigung ihrer besonderen Leistungen und Begabung wurde ihr ein Deutschlandstipendium verliehen, und sie wurde durch die Gerhard Trede-Stiftung gefördert. Sie nahm an Meisterkursen von Helen Donath, Malcolm Walker, Margreet Honig, Brigitte Fassbaender und Lioba Braun teil.
©Seda Amir-Karayan
Ein sehr nahbares Portrait hat der SWR auch in filmischer Form von der charismatischen Altistin Seda Amir-Karayan "gezeichnet".
©Seda Amir-Karayan
Schumanns "Lotusblume" von der Altistin Seda Amir-Karayan in ein künstlerisch interessantes Musikvideo eingebettet. Modern kontextualisiert sprechen Ton und Bild tatsächlich eine gemeinsame Sprache. Wirklich wunderschön.