21. Februar 2023
Rubrik Interviews
©Christina Poulitsi
Christina Poulitsi gilt als eine der besten Interpretinnen der Königin der Nacht. 230 Mal hat die griechische Sopranistin diese Rolle bereits bekleidet - und das in mehr als 15 unterschiedlichen Produktionen weltweit. Eine Bandbreite, die so viel interpretatorischen Spielraum lässt, dass es der Sängerin mit dieser Rolle eigentlich nie wirklich langweilig werden kann.
Doch Christina Poulitsi will mehr! Viel mehr herausfordernde Rollen und musikalische Erlebnisse, die ihr professionelle Beziehungen mit Dirigenten und Künstlern eröffnen, in denen sie weiter in die Tiefe wachsen kann. Dabei sind ihr gehaltvolle Zusammenarbeiten mit einzigartigen Musikern sehr wichtig, ebenso wichtig wie die Wahrhaftigkeit, mit der es gilt, sich den Beruf der Opernsängerin vollumfänglich zu erschließen.
Authentizität, Ehrlichkeit und Einzigartigkeit sollten dabei die persönlichen Attribute eines Künstlers sein, um so auf der Bühne unverwechselbar zu werden.
Dass der charismatischen Sängerin dabei das Drama nie abhandenkommt, hat damit zu tun, dass es den Griechen bereits von Haus aus im Blut liegt. Und das ist natürlich ein unschlagbarer Faktor für höchst spannungsgeladene Momente, die Christina Poulitsi zusammen mit ihrem ausdrucksstarken und virtuosen Vokalinstrument höchst überzeugend auf die Bühne bringt.
Operaversum: Liebe Christina, was war das Schlüsselerlebnis, das Sie zum Gesang gebracht hat und warum haben Sie sich für die klassische Musik entschieden?
Christina Poulitsi: Der Gesang war eigentlich schon im Kindesalter ein ganz natürliches Ausdrucksmittel für mich. Tatsächlich habe ich, bevor ich mit dem Sprechen anfing, zuerst vor mich hin gesungen. Es gab zwar in unserer Familie niemanden, der professionell musiziert hat. Doch ich erinnere mich sehr gerne daran zurück, wie sehr meine Eltern Musik geliebt haben und es bei uns zu Hause zu jeder sich bietenden Gelegenheit musikalisch aus allen vier Wänden tönte.
Als meine Eltern merkten, dass ich mit dem Singen nicht aufhören konnte, schickten sie mich zum "System-Off". Das war so eine Art musikalischer Kindergarten, in dem ich lernen durfte, Musik spielerisch zu entdecken. Dort hat man mich dann gesanglich gefördert und ich erlernte darüber hinaus auch noch die klassische Gitarre und spielte intensiv Klavier. Mein primärer Wunsch war es jedoch, Komponistin zu werden.
Doch als ich mit meinen Eltern, da war ich ungefähr 14 Jahre alt, einem Konzert im Amphitheater Herodes Atticus in Athen beiwohnte, den Chorsängern andächtig und fasziniert zugleich lauschte, war für mich glasklar, dass ich Opernsängerin werden will. Von dem Tag an war der Gesang meine erste große Liebe und stellte alles andere in den Schatten.
Und ich habe mir - auch als ich schon im Konservatorium klassischen Gesang studierte - immer vorgestellt, wie es wohl sein würde, irgendwann auch einmal auf genau dieser Bühne zu stehen und vor Publikum live zu singen. Das Gefühl, das dabei in mir heranreifte, war so berührend schön, dass ich meinen Traum vom Singen unbedingt erfüllt wissen wollte.
Als dann irgendwann die Zeit kam und ich tatsächlich in jenem Amphitheater auftreten durfte, war das eines der schönsten Glücksgefühle für mich überhaupt.
Operaversum: Und hatten Sie denn Vorbilder, die Ihre Art des Gesangs entschieden beeinflusst haben?
Christina Poulitsi: Maria Callas ist natürlich für viele Griechen ein ganz großes Vorbild. Im Prinzip tragen wir sie in unseren Herzen und sind sehr stolz auf sie. Ich denke tatsächlich, dass es keinen Griechen gibt, der in der Sängerin Maria Callas kein Vorbild sieht.
Was mich persönlich betrifft, habe ich sogar noch einen weiteren Grund, warum mir Maria Callas sehr viel bedeutet, denn ich habe an der Universität der Künste in Berlin mein Studium zur Opernsängerin aufnehmen dürfen, für das ich zuvor das Maria-Callas-Stipendium erworben hatte.
Dadurch bin ich der großen Diva des Operngesangs natürlich sehr verbunden. Nichtsdestotrotz glaube ich ganz fest daran, dass jeder Künstler dennoch seinen eigenen Weg finden und ihn dann auch gehen sollte. Vorbilder sind wichtig. Noch wichtiger aber ist es, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Deshalb versuche ich selbst auch immer authentisch zu sein und niemanden nachzuahmen.
©Christina Poulitsi
Operaversum: Ihre Repertoirerollen lesen sich wie die Crème de la Crème: Sie haben bereits als Gilda, Lucia, Violetta oder gar Manon auf den Opernbühnen geglänzt. Alles extreme Koloraturpartien, die neben der Gesangstechnik auch ein hohes Maß an darstellerischem Vermögen einfordern.
Wie schafft man es beispielsweise, eine 15-minütige Wahnsinnsarie physisch, emotional und gesanglich durchzuhalten?
Christina Poulitsi: Grundvoraussetzung für das erfolgreiche Gelingen einer solchen Arie ist natürlich eine ausgezeichnete Gesangstechnik, mit deren solider Basis man sich viel besser auf die Interpretation fokussieren kann. Allerdings fällt mir die Interpretation einer Rolle nie sonderlich schwer. Ich fühle mich im dramatischen Fach sogar ausgesprochen wohl, denn uns Griechen liegt ja bekannterweise das Drama von Haus aus schon im Blut.
Und je länger so eine dramatische Sequenz dauert, umso besser geht es mir damit, denn nur dann habe ich die Möglichkeit, mich im Verlauf der Handlung deutlich intensiver auf die Rolle einzulassen und den Fokus darauf zu verschärfen.
Bei meiner ersten Lucia in einer Inszenierung von Katie Mitchell war ich beispielsweise die ganze Spieldauer über auf der Bühne präsent. Dafür brauchte es nicht nur ein hohes schauspielerisches Vermögen, sondern auch enorme physische Stamina, um das ununterbrochene Stehen und Agieren auf der Bühne zu meistern, selbst dann, wenn ich gerade nichts zu singen hatte.
Diese zeitintensive Auseinandersetzung mit der Rolle der Lucia hat mir tatsächlich die Möglichkeit gegeben, eine deutlich tiefere Verbindung zu diesem speziellen Rollencharakter herzustellen, was einem normalerweise in vergleichsweise konservativeren Opernproduktionen selten so gelingen kann.
©Christina Poulitsi
Operaversum: Apropos Rollen! Als Königin der Nacht in Mozarts Zauberflöte haben Sie sagenhafte 230 Vorstellungen in 15 verschiedenen Opernproduktionen weltweit gegeben. Sie werden als eine der besten Interpretinnen dieser Rolle gehandelt:
Reizt sich diese Partie nicht irgendwann aus? Und wie schaffen Sie es, diese immer wieder mit neuem Esprit zu interpretieren?
Christina Poulitsi: Nein, die Königin der Nacht reizt sich für mich nicht aus, denn letztendlich kann man die Figur immer wieder aus den unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten und je nachdem, wie sie inszeniert wird, auch jedes Mal anders interpretieren: Mal ist die Königin die liebende Mutter, mal die böse Stiefmutter, dann wiederum ein fürchterliches Fabelwesen in Form eines Ungeheuers. Die Möglichkeiten dieser Rolle immer wieder ein anderes Gesicht, eine andere Facette zu verleihen, sind absolut mannigfaltig.
Und ich muss auch sagen, wenn man fühlen kann, wie viel Macht tatsächlich in dieser Figur steckt, ist das so unglaublich, dass man es kaum in Worte fassen kann. Körperlich habe ich es schon mal während einer Aufführung nachspüren können. Da haben sich meine Nackenhaare tatsächlich aufgestellt. So intensiv konnte ich diese darstellerisch fordernde Rolle in dem Moment durchleben.
Das einzige Manko an dieser Partie ist bedauerlicherweise, dass man insbesondere in der ersten Arie kaum eine Chance hat, alle Klangfarben seiner Stimme zu zeigen. Die Stimme für die Koloraturen zu öffnen und dabei auch noch technisch akkurat jeden Ton punktgenau zu treffen, das funktioniert leider überhaupt nicht. Vielmehr liegt der gesangliche Fokus auf der perfekten Ausgestaltung der Koloraturpassagen und in dem gesanglichen Vermögen, die hohen F´s kristallklar herausströmen zu lassen.
Doch während der letzten Jahre habe ich in dieser Rolle so viel Erfahrungen sammeln können, dass ich die Königin mittlerweile sogar besser singe als früher. Dennoch ist langsam die Zeit gekommen, mich von dieser Rolle zu verabschieden, insbesondere weil ich mich in ihr mehr als Gesangsathletin fühle, die in der Kürze ihres Auftritts nicht alles zeigen kann, was eben auch emotional in ihr drinsteckt.
Operaversum: Somit ist die Arie der Königin der Nacht eine insgesamt technisch-athletische Rolle, in der man sein ganzes stimmtechnisches Können unter Beweis stellen kann? Nur die Emotionalität scheint tatsächlich in dieser Rolle deutlich kürzer zu kommen. Ist das so korrekt?
Christina Poulitsi: Tatsächlich vergleiche ich die Rolle der Königin der Nacht immer mit den Olympischen Spielen. Man hat zwar dieses berauschende Gefühl, wirklich etwas Außergewöhnliches zu leisten: Nur hat man im Vergleich zu anderen Belcanto-Rollen wenig Zeit, seinen emotionalen Facettenreichtum vollumfänglich zu zeigen. Immer braucht es für die Königin der Nacht ein starkes Nervenkostüm und 100-prozentigen Einsatz "on the spot".
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Operaversum: Welche persönlichen und fachlichen Qualitäten sind für Sie als Sopranistin entscheidend, um in der heutigen Opernwelt bestehen zu können und welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die sozialen Medien dabei?
Christina Poulitsi: Mir ist es absolut wichtig, dass man als Sängerin gleich zu Beginn an seiner Einzigartigkeit arbeitet, denn wir leben leider in einer Welt, in der alle uniform sein wollen. Jeder misst sich gleichermaßen an irgendwelchen vermeintlichen Vorbildern. Deshalb glaube ich, dass man, um sich aus der Masse deutlich abheben zu können, genau das Gegenteil davon machen muss, um so seine wahre, einzigartige und unverwechselbare Natur an die Oberfläche zu befördern. Genau das sollte das Bestreben eines Künstlers sein, die individuellen und persönlichen Attribute mit der fachlichen Expertise auf die Bühne zu bringen.
Operaversum: Also ist Ihnen eine Sängerin mit Ecken und Kanten lieber als ein glatt poliertes Sängerideal?
Christina Poulitsi: Auf jeden Fall! Denn Ecken und Kanten zu haben, bedeutet auch, authentisch und ehrlich zu sein und sich gerade eben nicht für andere zu verbiegen. Das mögen in unserer heutigen Zeit zwar selten gewordene Werte sein, dafür sind sie aber besonders und einzigartig. Für mich sind genau diese klassischen Werte essenziell und überaus wichtig, denn nur so kann ich selbst das ausstrahlen, was ich auch wirklich bin.
Operaversum: Und wie sieht es Ihrer Meinung nach mit der fachlichen Kompetenz aus? Was braucht es da, um aus der Masse der singenden Zunft hervorzustechen?
Christina Poulitsi: Leider stoßen viele Sänger:innen in der heutigen Zeit an ihre gesanglichen Grenzen und müssen sehr darauf Acht geben, ihr "Instrument" nicht vorzeitig kaputtzumachen. Einerseits soll die gesangliche Qualität auf einem stabilen Niveau gehalten werden. Andererseits müssen die körperlichen Kräfte, die schließlich auch die Stütze der Singstimme sind, so gut dosiert sein, dass man nicht gleich zu Beginn eines Aktes energetisch erschöpft ist. Es geht tatsächlich nicht immer nur darum, wie gut man singt, sondern auch, wie clever man ist, seine Kräfte so zu verteilen, dass sie über die Dauer einer dreiaktigen Oper bestehen können.
Operaversum: Und wie ist noch mal Ihre Haltung gegenüber den sozialen Medien? Braucht ein Opernsänger die sozialen Medien?
Christina Poulitsi: Da verhält es sich meiner Ansicht nach wie mit allen Dingen im Leben: Ganz klar haben die sozialen Medien Vorteile und Nachteile für einen Künstler. Es ist natürlich sehr schön, wenn man auf den sozialen Plattformen die Möglichkeit hat, direkt mit seinem Publikum in Kontakt treten zu können. Mir persönlich hat das ganz besonders während der Corona-Pandemie geholfen, denn ich konnte Live-Darbietungen viral schalten, Videos posten und Publikumsanfragen beantworten und somit mit meinen Fans interagieren.
Es ist natürlich selbstredend, dass auch die Fans es lieben, wenn sie beispielsweise auf Instagram eine andere, viel persönlichere Seite des Künstlers erleben dürfen, durch die privatere Einblicke in das Leben abseits des Rampenlichts offenbart werden. Doch ich finde, es muss eine Balance zwischen der Privatperson und dem Künstler geben. Diese Grenzen muss ich mir selbst stecken. Und auch das Bombardieren mit zu viel Informationen kann meiner Meinung nach kontraproduktiv sein.
©Christina Poulitsi
Operaversum: Liebe Christina, Sie haben in einem Instagram-Post ein sehr sinniges Statement abgegeben:
"Es gibt nicht den einen Weg! Es gibt nicht den richtigen Weg! Es gibt nur Deinen Weg!"
Wenn ich mir das Räderwerk der Opernbranche von außen ein bisschen näher betrachte, dann scheint es mir so, als müssten sich Künstler bereits in jungen Jahren für die hohen Anforderungen des Marktes verbiegen.
Wie haben Sie es geschafft, sich treu zu bleiben und Ihren eigenen Weg zu finden?
Christina Poulitsi: Mit dieser Frage habe ich mich bereits auseinandergesetzt, als ich noch sehr jung war. Damals war ich in einer Situation, in der ich mit einer Entscheidung konfrontiert war, ein Rollenengagement anzunehmen oder abzulehnen.
Dabei überkamen mich viele Zweifel und ich war mir sehr unsicher, was genau ich in dem Moment tun sollte. Um meiner Entscheidungsfindung ein wenig auf die Sprünge zu helfen, habe ich dann Rat bei Menschen meines Fachs gesucht, die vergleichsweise sehr viel mehr Berufserfahrung mitbrachten als ich. Ich dachte tatsächlich, sie könnten mir helfen, die richtigen Antworten zu finden. Doch dann merkte ich relativ schnell, dass ich meine eigenen Erfahrungen machen musste, um so meinen eigenen Weg zu finden und ihn dann auch konsequent gehen zu können.
Es ist maßgeblich, auf seine Stimme zu hören und ihrem Ruf zu folgen. Natürlich darf man auch nicht mit Scheuklappen durch das Leben gehen und sollte im Hinblick auf die Konkurrenz immer die Augen offenhalten und beobachten, was im Markt so vor sich geht. Nur den Vergleich zu seinem Gegenüber braucht man nicht suchen. Den sollte man bei sich selbst finden, damit man kritisch reflektierend an seinen eigenen Schwachstellen arbeiten kann.
Wenn man wirklich eine lange Karriere haben will, dann ist es wichtig, gerade in der Kunst eine Authentizität zu erlangen, die einen als Sänger einzigartig und damit unersetzbar macht!
©Christina Poulitsi
Operaversum: Und braucht es auf diesem künstlerischen Selbstfindungspfad auch Mentoren, die einem Sänger unterstützend zur Seite stehen?
Christina Poulitsi: Sicherlich sind Mentoren für eine Sängerin sehr wichtig, insofern, als dass ein guter Mentor Dir den Weg ausleuchtet, auf dem Du gehst, was aber nicht bedeutet, dass er Dir diesen Weg beziehungsweise die Richtung auch zeigt.
Den Weg finden und ihn dann auch konsequent gehen, das muss man wirklich ganz alleine schaffen. Der Glaube an das eigene Können ist dabei natürlich unabdingbar. Denn hätte ich als junge Frau auf den Rat einer potenziellen Gesangslehrerin gehört, die mir, als ich noch ganz am Anfang meiner Laufbahn stand, vehement von einer Sängerkarriere abraten wollte, wäre ich ganz bestimmt nicht dort angekommen, wo ich heute bin.
Operaversum: Technik oder Emotion? Schöngesang oder Expressivität?
Welche gesanglichen Attribute sind in der Priorität am wichtigsten für die Entfaltung Ihres stimmlichen Potenzials, mit dem Sie Ihr Publikum erreichen wollen?
Christina Poulitsi: Nun, ohne eine fundierte Gesangstechnik kann man eine Rolle nicht wirklich gut interpretieren. Daher ist es essenziell, eine ausgereifte Technik zu haben, insbesondere was das Koloraturfach anbelangt. Andererseits bringt es aber auch nichts, wenn man nur die Technik beherrscht und eine Arie wie eine Maschine herunter rattert. Dann hat der Gesang keinerlei Beseeltheit und die Kunst keinerlei Bedeutung. Und genau darum geht es doch - Kunst zu machen. Und um Kunst machen zu können, sollte man die notwendige Interpretation und Expressivität, die eine Rolle erforderlich macht, nicht dem bloßen Schöngesang opfern.
Operaversum: Darf man es sich als Sänger denn überhaupt erlauben, auch mal technisch nicht ganz so perfekt zu singen, wenn die ins Publikum transportierten Emotionen einfach umwerfend sind?
Christina Poulitsi: Mit dem Wissen, das es viele Opernkritiker gibt, die eine Opernaufführung, insbesondere aber auch die Künstlerinterpreten rezensieren, sollte man sich gerade davon nicht kirre machen lassen, auch wenn ein Ton in einer Arie vielleicht mal nicht so gut gestützt war.
Viel wichtiger ist die Ehrlichkeit des Künstlers, mit der er dem Publikum seine Emotionen offenbart. Und als Operngänger will man doch auch echte Erlebnisse erfahren, die mit wahrhaften Emotionen verwoben sind. Das, was einfach mit Worten nicht zu beschreiben ist. Denn was wäre die Oper überhaupt ohne Emotionen?
Nur die Musik hat so eine monumentale Macht, mit der sie uns Menschen mitten ins Herz trifft, berührt und emotional erreicht. Für diese Fähigkeit müssten sie doch die vielen Regierungsoberhäupter dieser Welt beneiden!
Umso bedauernswerter ist es dann, wenn Künstler mit einem Filter aus Egoismus oder gar Angst auf die Bühne treten und ihr volles emotionales Potenzial hinter einer gesangstechnischen Trutzburg verstecken. So sollte Gesang definitiv nicht sein.
Operaversum: Sie haben in Athen im Amphitheater Herodes Atticus Musik von Manos Hadjidakis dargeboten. Was bedeutet Ihnen seine Musik und kann man sagen, dass aus ihr die griechische Seele spricht?
Christina Poulitsi: Tatsächlich war es für mich das erste Mal, dass ich bei einem Stück von Manos Hadjidakis mitwirken durfte. Ich muss zudem gestehen, Manos Jadjidakis ist einer meiner griechischen Lieblingskomponisten.
Ich liebe seine Musik, weil sie etwas sehr Raffiniertes hat. Diese Leichtigkeit und diese kompositorischen Feinheiten in der Musik sind absolut einzigartig, obgleich ich gar nicht mal so sehr finde, dass aus Hadjidakis Musik zu 100 Prozent die griechische Seele spricht.
Da Manos Hadjidakis auch lange Zeit im Ausland gelebt und die westlich europäische Musik eingängig studiert hat, sind natürlich ebenfalls Einflüsse dieser Kultur in seiner Musik verarbeitet. Aber was dieser Komponist wirklich sehr gut macht, ist, die westlichen Einflüsse mit der griechischen Musik harmonisch in Einklang zu bringen.
Operaversum: Benennen Sie mir eines der schönsten Erlebnisse auf der Opernbühne. Was hat es so einzigartig für Sie gemacht?
Christina Poulitsi: Oh, da habe ich ganz viele tolle Erlebnisse. Nur eines war ganz besonders, nämlich als ich vor vielen Jahren in Florenz die Gilda spielen durfte. Diese Rolle hatte ich unter Maestro Zubin Mehta inne. Dazu muss ich sagen, dass eine Zusammenarbeit mit großen Dirigenten immer eine ganz besondere Erfahrung ist, weil man in solchen Konstellationen seine Rollen besonders ausgefeilt interpretieren kann.
Und so konnte ich im dritten Akt ein absolutes Pianissimo singen, weil der Maestro das Orchester in eine so gute dynamische Balance gebracht hatte, dass ich ohne Mühe darüber auch leise hinwegsingen konnte. Solche Erfahrungen sind einfach wunderbar. Und ich erinnere mich noch daran, wie Zubin Mehta beim Schlussapplaus meine Hände genommen und sie geküsst hat. Dieser Moment hat sich unwiederbringlich in mein Gedächtnis gebrannt.
Und bei einer früheren La-Traviata-Produktion in Hamburg, als ich "Parigi, o cara" anstimmte, konnte ich während des Singens meinen Körper plötzlich nicht mehr fühlen. Die körperlichen Grenzen waren wie ausradiert. Und es fühlte sich für mich so an, als wäre die Zeit stehen geblieben.
Operaversum: War das in etwa so wie eine transzendente Erfahrung?
Christina Poulitsi: Genau! Ich hatte dabei auch so ein Glücksgefühl in mir, dass ich nie vergessen werde. Vielleicht habe ich just in dem Moment der Zeitlosigkeit sogar einen kleinen Vorgeschmack auf die Ewigkeit bekommen.
©Andreas Simopoulos
Operaversum: Liebe Christina, Sie haben bereits viel erreicht, an großen Opernhäusern weltweit gesungen. Welche Rollen und welche Opernhäuser fehlen noch auf Ihrer persönlichen Wunschliste? Und gibt es für Sie noch einen ganz speziellen beruflichen Traum, den Sie gerne erfüllt wissen wollen?
Christina Poulitsi: Sicherlich gibt es noch viele Rollen, Opernhäuser und Erlebnisse, die ich auf meiner persönlichen Wunschliste notiert habe. Es gibt auch nicht nur einen Wunsch. Aber das aller wichtigste für mich ist, professionelle Beziehungen mit Dirigenten und Künstlern einzugehen, mit denen man gemeinsam wachsen und einzigartige Musik machen kann, durch die sich noch mehr Tiefe und Wahrhaftigkeit erschließen lassen.
Ich will tatsächlich keine schnelllebige, oberflächliche Musik produzieren. Aus dem Grund sind mir stabile und substanziell gehaltvolle Zusammenarbeiten äußerst wichtig.
Operaversum: In wenigen Worten: Was macht für Sie die Magie der Oper aus?
Christina Poulitsi: Man sagt, dass die Oper die Kunst der Künste ist, allen voran, weil sie in sich so viele verschiedene Kunstausrichtungen vereint, wie beispielsweise die Poesie, das Schauspiel, die Musik, der Tanz oder gar die Malerei.
Deshalb bin ich davon überzeugt, dass man in der Oper und nur in der Oper die Möglichkeit hat, viel tiefere Emotionen aufzubauen, als in jeder anderen Musikform.
Und wenn man es richtig anstellt, sodass die Emotionen von der Bühne auf das Publikum überschwappen und eine Resonanzerfahrung möglich ist, dann ist es wie ein seelischer Orgasmus.
Operaversum: Oder eben eine Katharsis! Das haben Sie sehr treffend auf den Punkt gebracht. Herzlichen Dank für die vielen wundervollen Einblicke in ihr künstlerisches Schaffen. Ich habe heute sehr viel Neues erfahren und eine ganze Menge dazugelernt. Für Ihre weitere Karriere wünsche ich Ihnen ganz viel Erfolg, weitere glückliche Momente auf der Bühne und toi, toi, toi!
©GNO
„Die Stimme der griechischen Sopranistin Christina Poulitsi hat Körper, und sie verfügt über bemerkenswerte Koloraturen, die die höchsten Töne mühelos erreicht. Vollkommene Beherrschung der Tessitura verbindet sie mit einer ungewöhnlichen Stimmfülle, die die Akustik mitreißend zum Klingen bringt.“ (Seen And Heard International):
Gefeiert für ihre kristallklaren Koloraturen, die atemberaubend sichere Höhe und zugleich Wärme ihrer Stimme, hat sich Christina Poulitsi als eine der führenden Vertreterinnen ihres Fachs auf einigen der wichtigsten Bühnen der Welt etabliert.
Obgleich Sie als eine der besten Interpretinnen der "Königin der Nacht" gilt, brillierte sie bereits an der Seite von namhaften Dirigenten wie Zubin Mehta und Gianandrea Noseda in herausragend charakterstarken Hauptrollen. Zu ihrem anspruchsvollen Repertoire zählen unter anderem Partien wie Lucia, Konstanze, Violetta, Gilda oder Massenets Manon.
In der aktuellen Spielzeit debütiert Christina Poulitsi am Opernhaus in Zürich und wird mit dem Johann Strauss Ensemble auf Konzerttour gehen. Ihre erste offizielle CD-Einspielung von Carmina Burana mit dem London Symphony Orchestra unter der Leitung von Gianandrea Noseda wird im Juni 2024 stattfinden.
Erstmals wird Christina Poulitsi die Rolle der Elvira in Bellinis Oper "Il Puritani" im Oktober 2023 in Athen darbieten.
Zu den besonderen Meilensteinen in ihrer Karriere zählen unter anderem folgende Glanzpartien: Violetta an der Staatsoper Hamburg, Lucia in einer Inszenierung von Katie Mitchell, Gilda in Florenz unter der musikalischen Leitung von Zubin Mehta, Amina in Bellinis "La Sonnambula in einer Produktion von Arturo Marelli, Manon (Massenet) an der Greek National Opera in Athen, Pamyra in Rossinis "Le Siege de Corinthe", Contessa di Folleville beim Rossini Opera Festival. Stravinskys Rossignol beim Stresa Festival unter der Leitung von Gianandrea Noseda, die Königin der Nacht am Royal Opera House in London und ihre Konzerte mit dem Israel Philharmonic Orchestra sowie eine Neuproduktion der Regisseurin Katerina Evangellatos in Verdis Rigoletto als Gilda im Amphitheater Herodes Atticus in Athen.
Als Königin der Nacht glänzte Christina Poulitsi neben ihrem Auftritt am Royal Opera House in Covent Garden / London in weiteren 230 Aufführungen und 15 verschiedenen Inszenierungen an folgenden Häusern: Teatro dell´ Opera die Roma, Bolshoi Theatre, Teatro de Liceu in Barcelona, Tokyo New National Theatre, Deutsche Oper Berlin, Seattle, Paris, Grand Theatre of Shanghai, Teatro Comunale di Bologna, Deutsche Oper am Rhein, Teatro Regio di Torino, Staatsoper Hamburg, Semperoper , Australia, New Zealand , Stuttgart etc.
Unter der Leitung von Christian Thielemann trat sie als italienische Sängerin in »Capriccio« an der Semperoper Dresden auf und arbeitete ebenfalls mit weiteren namhaften Dirigenten wie Michaele Mariotti, Alberto Zedda, Jean-Christophe Spinosi und Regisseuren wie Barry Kosky, Roberto Abbado und Katie Mitchell zusammen.
Christina Poulitsi wurde in Athen geboren. Als Stipendiatin der Maria-Callas-Stiftung absolvierte sie ihr Masterstudium an der Universität der Künste in Berlin bei Dagmar Schellenberger und Brigitte Eisenfeld. Vor dem Aufenthalt in Deutschland schloss sie an der Universität von Athen die Studiengänge Musikwissenschaften und Musiktheorie ab. Darüber hinaus nahm sie auch an Meisterklassen bei Alberto Zedda und Michael Hampe teil. Im November 2011 gewann sie den 1. Preis beim internationalen Nico-Dostal-Wettbewerb in Wien. 2014 war sie Finalistin beim Operalia-Gesangswettbewerb in Los Angeles und wurde in Griechenland zur besten Nachwuchssängerin des Jahres für ihre Darbietung der Gilda in Verdis »Rigoletto« an der Greek National Opera in Athen ernannt. Erst kürzlich gewann sie den ersten Preis beim internationalen "Nico Dostal" Wettbewerb in Wien.