21. Juni 2024
Rubrik Interview
©Jana Jocif
Aco Bišćević ist ein slowenischer Haute-contre, der sich mit Leib und Seele seinem Sängerberuf verschreibt. Ob Barock- oder Renaissance Musik, intimer Liedgesang oder Graun-Cantaten, es reicht dem charismatischen Tenor nicht aus, einfach nur schön zu singen und ausschließlich den Schöngesang zu bemühen. Denn nur, wer sich auch emotional öffnen kann, wer es schafft, sich an den imaginären Abgrund einer musikalischen Interpretation zu stellen, macht die Kunst erst erlebenswert.
Jüngst erschienen ist sein sehr besonderes Album mit selten eingespielten Graun-Cantaten, von denen Aco Biščević mit Herzblut zu erzählen weiß. Wer den Haute-contre aus Leidenschaft einmal bei einem Liederabend erlebt hat, weiß, was diese Stimme Wundervolles kann und mit welch eindrücklichem Facettenreichtum Aco Biščević ein jedes Lied so gestaltet, dass es von Seele zu Seele und von Mensch zu Mensch spricht.
Operaversum: Lieber Aco, es gibt viele Tenorfächer beziehungsweise stimmliche Abspreizungen. Wo genau ordne ich Dich als Haute-contre ein? Und was macht den speziellen Klang Deiner Stimme aus?
Aco Bišćević: Tatsächlich ist die Einordnung des Haute-contre unglaublich problematisch, da wir nicht sehr viel darüber wissen, wie Tenöre früher geklungen haben. Was wir wissen, ist, dass italienische Tenöre mit Falsett über das Passagio hinaussingen konnten.
Und wir können ebenfalls rekonstruieren, dass die Franzosen auch über dem Passagio mit voller Stimme gesungen haben. Und Letzteres zeichnet einen Haute-contre aus.
Ich persönlich würde aber behaupten, dass man auch über die Voix mixte und das Falsett reden muss. Wirft man hingegen einen Blick auf die Cantaten von Graun, gestaltet sich die Stimmtechnik dort auch schon wieder anders.
Insofern gibt es, je nach Repertoire, keine eindeutige Antwort darauf, wie ein Haute-contre heute zu singen und zu klingen hat.
Wenn man beispielsweise eine Partitur von Galuppi studiert, stellt man schnell fest, dass es darunter sehr schwer zu singende Arien gibt, die bis zum hohen E gehen und bei denen man sich fragt, wann und ob die jemals dargeboten werden, einfach, weil sie so hoch und schwer sind. Und auch da bleibt die Frage, wie man das singen soll!
Ich bin mir auch nicht sicher, ob wir hohen Tenöre überhaupt noch die passgenaue Technik für so ein Repertoire beherrschen.
Was aber mich speziell als Haute-contre auszeichnet, ist meine physiognomische Beschaffenheit, die es mir ermöglicht, sehr leicht in die Höhe zu gelangen, wobei das sehr viele Tenöre schaffen. Ausschlaggebend ist vielmehr, in der Höhe, sprich über dem Passagio bequem singen zu können und dort zu bleiben.
Operaversum: Und was bedeutet es, gesangstechnisch bequem in der Höhe zu bleiben? Bedeutet es, dass Du tendenziell mehr mit der Kopfstimme als mit der Bruststimme singst?
Aco Bišćević: Es hängt ganz von der Partie ab. Singe ich beispielsweise eine heroische Rameau-Arie, die mehr hohe Cs enthält als irgendeine Donizetti-Arie, dann würde ich sie persönlich nicht mit der Kopfstimme, sondern mit voller Stimme singen. Alles, was die Stimme ausdauernd in der hohen Lage halten muss, singe ich gestützt mit meiner Bruststimme.
Wenn es sich aber um sehr lyrische Musik handelt, bei der man die ganz hohen Register sehr weich und zart singen muss, wie auch bei Graun der Fall, dann bediene ich mich der Kopfstimme und der Voix-mixte.
Es kommt immer auf die Partie an, ob ich lyrisch oder "heroisch" singe. Je nach Partie muss ich dann entweder meine Stimme voll ausschöpfen oder sie mit emotionalen Klangfarben versehen.
Dabei entscheidet sich dann, ob ich weich oder kraftvoll singe. Beides muss ich gut beherrschen können. Allerdings stellt sich dabei das Problem, dass wir Sänger oft nur eines von beiden gut beherrschen. Es ist wesentlich einfacher, laut zu singen, als im Pianissimo zu brillieren.
Operaversum: Du hast Graun gerade schon angesprochen. Gerade ist diese besonders exquisite CD-Einspielung mit Graun-Cantaten von Dir erschienen:
"Einen solchen Sänger werden wir nie wieder hören". Genau das sagte Friedrich der Große nach Grauns Ableben. Nun gibt es aber Dich. Du hast Dich an seine Cantaten gewagt. Was waren für Dich die Herausforderungen?
Aco Bišćević: Lass mich für die Antwort ein bisschen weiter ausholen. Als ich vor 10 Jahren in Salzburg Gesang studiert habe und bei meinem Musiklehrer für Alte Musik, Reinhard Göbel, auf einen riesigen Stapel Partituren von noch nie aufgeführter Tenormusik gestoßen bin, entdeckte ich durch Zufall die Cantaten von Graun.
Seitdem wollte ich seine Werke singen und habe mir oft überlegt, wie man sich bei so vielen hohen Cs und Ds an diese Musik gesanglich heranwagt. Als ich mich dann aber mit Michael Hofstetter zusammengetan habe, um diese Partien einzustudieren, war das für mich wie eine Offenbarung.
Schließlich ist Michael nicht nur ein Dirigent, der seine Sänger begleitet, sondern vor allem auf sie eingeht - und zwar so, dass man das Gefühl von Freiheit bekommt. Und Freiheit ist für mich als Künstler essenziell. Das, was ich jetzt sage, mag sehr philosophisch klingen. Für mich ist es aber sehr bedeutsam:
Freiheit oder Liebe? Was kommt zuerst? Ohne Freiheit gibt es keine Liebe und ohne Liebe gibt es keine Freiheit! Genau so empfinde ich das in meiner Kunst. Und wenn man mit Michael Hofstetter zusammenarbeitet, gibt es diese Freiheit, sprich, es gibt es diese Liebe beim gemeinsamen Musizieren. Für mich ist dass das schönste Geschenk überhaupt.
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Operaversum: Aber wie habt Ihr dann die Cantaten einstudiert und was waren die Herausforderungen, dieser Musik Leben einzuhauchen?
Aco Bišćević: Das Einstudieren hat etwa ein Jahr gedauert, denn technisch ist diese Musik enorm schwierig in die Praxis umzusetzen.
Vor allem die Herangehensweise, wie man Grauns Cantaten singen soll. Schließlich ist sie sehr pastoral, innig und zerbrechlich und muss auch vor dem Hintergrund des bewegten Lebens Friedrich des Großen betrachtet werden. Und nicht nur das. Auch das Wissen um die kleinen Ensemble, die damals in intimer Atmosphäre bei Hofe musiziert haben, ist von Relevanz. Wir wissen auch, dass Graun eine zarte Stimme hatte und das hat mich sehr beeinflusst.
All diese Komponenten waren letztendlich ausschlaggebend für die musikalische Umsetzung und Ausführung. Besonders herausfordernd war dabei für mich, mich stimmlich nicht verstellen zu müssen, um einen Gesang zu produzieren, der den Vergangenheitscharakter imitiert, sondern mit meiner natürlichen Stimme, so wie sie beschaffen ist, dem Erbe Grauns gesanglich und interpretatorisch gerecht zu werden und ihm so nahe wie möglich zu kommen.
Um diese hochvirtuose Musik technisch auf den Punkt zu bringen, habe ich mich sowohl der Voix mixte als auch dem Pianissimo in den sehr hohen Passagen bedient und versucht, Letztere sehr zart und innig mit meiner Stimme zu produzieren.
Es geht bei Grauns Musik immer sehr um Intimität und um die Poesie, derer man sich am Hofe Friedrichs bedient hat. Alles musste sehr innig sein und teils auch Erotik versprühen. Und genau diese flirtive, kokettierende Atmosphäre haben wir mit Michael nachzuempfinden versucht, was uns hoffentlich auch gelungen ist.
Operaversum: Das Wort Atmosphäre fällt häufig. Habt Ihr denn für die Aufnahme einen speziellen Raum ausgewählt?
Aco Bišćević: Nein! Das hätte zu viel Aufwand bedeutet. Natürlich hätten wir es begrüßt, die Aufnahmen in einem Barockschloss einzuspielen. Aber letztendlich hätte ich es auch so nicht besser treffen können. Die Zusammenarbeit mit Michael Hofstetter und dem Barockorchester der Thüringer Philharmonie war fantastisch. Mit seinem Dirigat schafft er es, immer so einen langen Bogen zu generieren.
Operaversum: Sprichst Du vom Legato?
Aco Bišćević: Auch das. Aber mit Bogen meine ich nicht das Legato. Der Bogen beschreibt etwas, das viel weiter über die Phrase hinausgeht und sich über das gesamte Werk spannt, sodass man sich als Sänger nicht in der Phrase selbst oder in einem Triller verliert.
Es reicht nämlich nicht aus, nur bis zu einer Phrase zu denken und die besonders schön zu singen. Man muss von Anfang bis Ende eine Spannung aufrecht halten und bereits das Ende mitdenken.
Operaversum: Das heißt, Du sprichst vom Spannungsbogen?
Aco Bišćević: Ganz genau. Und das ist natürlich ein schweres Stück Arbeit, da kontinuierlich dran zu bleiben. Tatsächlich weiß ich nicht, ob wir es geschafft haben, das auf der CD so umzusetzen.
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Operaversum: Meines Erachtens klingt die Aufnahme phänomenal und ist genauso beeindruckend wie Deine Interpretation von John Dowland beim Nachtkonzert der Gluck-Festspiele in Bayreuth. Noch dazu handelt es sich um ein gänzlich anderes Genre, denn Dowland ist Renaissance-Musik und somit im Vergleich zur Barockmusik eine völlig andere Welt.
Und dennoch John Dowland kann so erfrischend modern klingen, fast schon populär: Was ist da die Herangehensweise?
Aco Bišćević: Dowland darf man nicht so singen, als ob man in einem riesigen Saal wäre. Dann nämlich geht der emotionale Gehalt verloren, insbesondere wenn man von Liebe oder Trauer singt. Das sind sensible Themen, die Intimität und Emotionalität verlangen. Und ja, Du hast völlig Recht.
Dowland soll wie ein Pop Song klingen, nicht wie eine Musik, die man vor einem Massenpublikum darbietet. Dann nämlich geht der Sinn verloren. Schubert singe ich oft vor großem Publikum, was allerdings mit der romantischen Schubertschen Praxis wenig zu tun hat.
Deshalb singe ich auch viel lieber vor weniger Leuten, wenn es um den Liedgesang geht. Zu Schuberts und Dowlands Zeiten gab es schließlich auch nur die gängigen Hauskonzerte. Insofern muss Dowland wie ein Pop Song klingen und nicht wie ein Lied aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.
Lieder sind nämlich auch in unserer aktuellen Zeit relevant. Sie erzählen von Emotionen, die zeitlos sind, die exakt genauso empfunden werden wie vor hundert Jahren. Dowlands Musik soll ein Publikum von heute ansprechen können. Melancholie bleibt ja Melancholie.
Operaversum: Es geht also um Emotionen und das man durch sie berührt wird? Für mich klang Deine Interpretation sehr fragil, im Sinne von zärtelnd.
Hättest Du sie laut gesungen und Dich nur auf die Technik konzentriert, wäre davon bei mir leider nichts angekommen. Du hast Dowland wirklich in die Waagschale der Seele gelegt und alles aus seiner Musik herausgeholt. Und in solchen Momenten spürt man den Menschen und das, was er mit seinem Gesang in die Gegenwart transportiert.
Aco Bišćević: Genau so ist es. Ganz wichtig für mich ist, dass ich, bevor ich auf die Bühne trete, jedes Stück erst mal ohne Text einstudiere, obwohl der Text Alpha und Omega für mich ist. Das bedeutet, ich lasse zuerst die Musik des Komponisten auf mich wirken, auch wenn ich in dem Moment den Kontext nicht verstehe.
Doch sobald der Text dazukommt, stelle ich fest, dass ich exakt die Emotionen, von denen das Gedicht spricht, längst aus der Musik herausgehört habe. Mir ist beim Liedgesang ebenfalls sehr wichtig, meine eigenen Gefühle beziehungsweise Empfindungen in das Werk hineinzulegen. Nur muss ich aufpassen, dass ich dabei nicht plötzlich sentimental werde.
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Operaversum: Ich verstehe, damit das Ganze nicht kippt und gar ins Kitschige abrutscht.
Aco Bišćević: Korrekt! Prinzipiell darf ich beim Gestalten eines Liedes alles tun. Tatsächlich muss ich mich sogar an den imaginären "Abgrund" stellen, muss bis an die "Kante der Kunst" herantreten und dabei aufpassen, dass ich nicht ins Bodenlose stürze.
Alles andere käme dem Verweilen in der gemütlichen Mitte gleich, in der meine Stimme natürlich sehr schön anzuhören ist und ich bequem im Mezzoforte oder Forte singen kann. Leider transportiere ich da aber emotional auch nichts.
Wenn ich beispielsweise "Time stands still" von Dowland singe, dann muss ich alles geben können, was das Lied mir abverlangt. Und natürlich laufe ich dabei Gefahr, dass meine Stimme eventuell wegbricht. Aber so habe ich zumindest versucht, alles zu geben.
Es ist immer eine Gratwanderung, was die gesangliche Ausgestaltung anbelangt und es kann kippen, wenn ich mich beispielsweise bei einer dramatischen Interpretation in ein Leid hineinsteigere. Mir muss jederzeit bewusst sein, dass ich lediglich eine Geschichte erzähle.
Da muss man schon eine klare Grenze ziehen, sollte aber dennoch nie in der sicheren Komfortzone verweilen, denn dann brauchen wir keine Kunst zu machen.
Operaversum: Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Auch ich merke sofort, wenn ein Interpret seine Musik emotional belebt. Und sie lebt schließlich auch nur durch die Emotionen. Aber lass uns das Thema einmal wechseln und über den Liedgesang sprechen:
Du nennst Dich Tenorist in Pianist und begleitest Dich selbst am Klavier, was ich mir sehr schwierig vorstelle, zumal Du Dich, was Deine Konzentration anbelangt, sowohl auf das Klavierspiel als auch auf Deinen Gesang fokussieren musst - und das sicherlich auch noch zu gleichen Teilen?
Aco Bišćević: Seit 20 Jahren begleite ich Violinisten, Sänger, Oboisten, Klarinettisten oder Flötisten am Klavier. Insofern habe ich ein Gespür dafür entwickelt, mich selbst auch beim Singen versiert zu begleiten, was zu Zeiten Schuberts oder Hahns sowieso nicht unüblich war.
Liedgesang soll schließlich auch nicht einfach nur schön sein, sondern er soll einen Erzählcharakter haben. Aber Du fragst, wie ich es letztendlich mache?
Nun, es gibt kein probateres Erfolgsrezept als üben, üben und nochmals üben, was für mich bedeutet, dass ich tatsächlich zwei Mal so viel üben muss, als wenn ich mich ausschließlich auf den einen oder anderen Schwerpunkt konzentriere.
Wenn ich beispielsweise die "Rastlose Liebe" von Schubert einstudiere, die aufgrund der vielen schnellen Akkordapeggi sehr schwer zu spielen ist, muss ich erst mal mit dem Metronom bei 30 anfangen, um mich dann irgendwann bei 140 einzupendeln. Und das dauert bei meinem Lerntempo in etwa zwei Wochen.
Aktuell begleite ich mich bei Schuberts "Schöner Müllerin" auch selbst, was beim Einstudieren des Stückes auch sehr lange gebraucht hat, bis ich es sicher und bequem singen konnte. Mittlerweile könnte ich mitten in der Nacht aufstehen, mich ans Klavier setzen und sofort aus dem Stegreif losspielen und singen, denn meine Muskulatur ist aufgrund meines ausgiebigen Trainings entsprechend gut gedehnt.
Operaversum: Lieber Aco, gibt es denn einen Lieblingskomponisten oder ein Lieblingslied, das Dich ganz besonders berührt?
Aco Bišćević: Das ist ohne Frage Schubert. Letztendlich ist jeder Komponist mein Lieblingskomponist. Doch Schuberts Musik, insbesondere seine Lieder sind für mich das Heiligste, was es gibt.
Warum genau, kann ich nicht sagen. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich auch aus einem Alpenland stamme und Schuberts Lieder wie volkstümliche Weisen anmuten. Man könnte sagen, seine Lieder sind wie Muttermilch für mich.
Und Wien war schließlich auch mal, auch wenn das schon 120 Jahre her ist, unsere Hauptstadt. Dieses kulturelle Erbe ist irgendwie immer noch tief in uns verwurzelt.
Hinzu kommt, dass Schubert in mir dieses Gefühl von Sehnsucht erweckt, das, was in seiner Musik in Verbindung mit Trauer und Tod steht und sich mit der philosophischen Frage auseinandersetzt, woher wir kommen und wohin wir gehen. Und Schubert hat sich diesen Themen fast immer in seinen Werken gewidmet.
Wenn ich mich jetzt aber für ein konkretes Lieblingsstück entscheiden müsste, dann wäre es "Die schöne Müllerin", wohl weil sie Tausende von Emotionen bespielt.
Aus dem Grund ist sie auch sehr schwer zu singen, bedenkt man, dass man in einer kurzen Stunde ein ganzes Leben mit allen Facetten wie Liebe, Hass, Trauer und Selbstmord musikalisch durchlebt.
Operaversum: Lieber Aco, gibt es ein Bühnenerlebnis, das für Dich unvergesslich war und von dem Du mir erzählen kannst?
Aco Bišćević: Letztendlich ist jeder Bühnenauftritt ein Geschenk für mich. Jedes Mal nach einer Vorstellung denke ich im Stillen "Mein Gott, wie kann es sein, dass ich hier stehen und so etwas Schönes singen darf."
Aber natürlich gab es in der Vergangenheit einen ganz starken Moment auf der Bühne - und zwar als meine todkranke Mutter eine der letzten Male im Publikum saß, um meinem Konzert mit Schubert-Liedern zu lauschen.
Es ist bekannt, dass Schubert sich in seinen Liedern immer stark mit dem Tod auseinandergesetzt hat. Vor diesem Konzert habe ich mich ein ganzes Jahr lang sehr intensiv mit den Liedern Schuberts auseinandergesetzt, was einen sehr therapeutischen Effekt auf mich hatte.
Durch seine Musik und auch generell hat man einen direkten Zugang zum höheren "Ich". Sehr oft bearbeite ich daher persönliche Themen über die Musik. Für mich ist und bleibt die Musik immer ein großes Geschenk und ich bin sehr dankbar, dass sie meine Berufung ist.
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Operaversum: Das hast Du schön gesagt. Demnach heißt das für Dich, durch die Musik eine Persönlichkeitsentwicklung durchzumachen?
Aco Bišćević: Absolut! Meine beste Freundin, die berühmte Flötistin Irena Grafenau, hat mir bedeutsame Worte mitgegeben: " Es ist nichts wichtiger als Mensch zu sein,." Das heißt für mich, erst muss ich mir und anderen Mensch genug sein. Und danach kommt dann die "Heilige Kunst". Und nach diesem Motto versuche ich meine "musikalische Reise" zu gestalten.
Dafür muss man sich natürlich auch Zeit zum Leben nehmen, was gar nicht so einfach in unserer heutigen Zeit ist, weiß man doch um all die Ablenkungen, die in Form von sozialen Medien, Handys etc. direkt an der nächsten Ecke auf einen lauern.
Aber Kunst kann man nur machen, wenn man Sinnhaftigkeit erfährt. Das wir auf dieser Welt sind, hat damit und auch mit der Verbundenheit des Menschen zur Natur zu tun. Viele sind aber leider nur noch selten in der Natur unterwegs, sitzen lieber zu Hause vor dem Fernseher ohne Sinn und Verstand.
Und dann hat man nichts. Für junge Musiker ist es außerdem sehr gefährlich, sich an den sozialen Medien zu orientieren und beispielsweise eine Interpretation anderer Musiker zu kopieren, anstatt sie sich selbst und ein Werk aus eigener Kraft zu erarbeiten. Das ist in etwa so, als würde die KI für Dich einen Liebesbrief schreiben. Wir müssen selbst versuchen, an einem Werk persönlich zu wachsen und es nicht zu imitieren.
Operaversum: Ich denke auch, dass jeder Mensch sich Dinge selbst erarbeiten, sie aus eigenen Stücken erlernen muss, was ja auch etwas mit Erfahrung sammeln zu tun hat.
Aco Bišćević: Genauso ist es. Ich werde auch manchmal wahnsinnig, wenn ich bei einem Stück das Tempo nicht verstehe und auch nicht verstehe, wie ich eine Phrase singen oder Textstellen korrekt betonen soll. Natürlich werfen sich mir dann auch viele Fragen auf, weil ich in dem Moment Wissenslücken habe.
Aber nur, wenn ich mich an das besagte Stück herantaste, selbst ausprobiere, was am besten funktionieren kann, dann erst ist es mir möglich, in die Musik hineinzuwachsen.
Sicherlich ist es auch ein Dilemma der Gegenwart, dass man ein Werk in quasi einer Woche intus haben muss, dass auch unsere Branche mittlerweile so schnelllebig geworden ist. Ehrlicherweise kann eine gelungene Interpretation aber nur gelingen, wenn man sie für sich selbst zu 100 Prozent durchdrungen hat.
Operaversum: Das klingt sehr plausibel. Lieber Aco, abschließend gefragt: Was macht für Dich die Magie der Barockmusik aus?
Aco Bišćević: Stell Dir vor, Nicole, Du besuchst die Sant´Ignazio Kirche in Rom und bist fasziniert von dem Bauwerk und den Fresken. Oder Du bestaunst einen Caravaggio im Museum. Genau diese Faszination sollten wir auch in der Musik schaffen.
Was genau die Barockmusik so besonders macht, ist ihr sehr stark ausgeprägter Rhythmus. Und Rhythmus ist immer das erste, was Menschen an der Musik reizt und anzieht.
Operaversum: Lieber Aco, herzlichen Dank für das inspirierende und sehr informative Gespräch und die vielen detaillierten Einblicke in Dein Tenorfach.
©Jana Jocif
2022 stellte die Süddeutsche Zeitung Aco Bišćević begeistert wie folgt vor: "Phänomenal singt und spielt er: der Slowene Aco Bišćević. Er ist ein großer sogenannter „haute-contre“, d.h. ein sehr hoher, eleganter französischer Tenor. Er füllte seine Rolle wunderbar aus mit einer ungeheuer weichen, flexiblen und ausnehmend schönen Stimme". In einer anderen aktuellen Rezension von Operawire heißt es dazu: "Der Star des Abends war zweifellos der slowenische Tenor Aco Bišćević, nicht zuletzt wegen seiner Fähigkeit, in einigen sehr unbequemen Situationen zu singen. Er verfügt über einen hohen Tenor, den er in seiner Darstellung der Orphée sehr wirkungsvoll einsetzte, und war sowohl körperlich als auch stimmlich perfekt für die Rolle geeignet. Seine Stimme besitzt einen süßen, hellen Ton, der durch die Partitur glitt, und seine Phrasierung der begleiteten Rezitative war glatt und vollendet."
Sein Operndebüt gab Aco Bišćević 2014 in der Rolle des Mercure in Rameaus Castor et Pollux an der Komischen Oper Berlin in einer Inszenierung von Barrie Kosky. 2017 gab er sein umjubeltes Debüt in der anspruchsvollen Rolle des Orpheus in der französischen Fassung von Glucks Orfeo ed Euridice am Tiroler Landestheater in Innsbruck. Er ist außerdem an Theatern und Festivals in ganz Europa aufgetreten, darunter dem Teatro alla Scala in Mailand, dem Maggio Musicale Fiorentino, dem Trame Sonore Festival in Mantua, dem Bach Festival in Lausanne, der Styriarte in Graz, den Salzburger Festspielen und er arbeitete mit Dirigenten wie Christopher Curney, Vittorio Ghielmi, Reinhard Goebel, Theodor Guschlbauer, Michael Hofstetter, Gérard Korsten, Váklav Luks, Ingo Metzmacher, Federico Maria Sardelli, Jordi Savall u. a. zusammen.
Zu seinen Plänen für 2023/24 gehören Glucks La Clemenza di Tito (Titelrolle) bei den Gluck-Festspielen in Bayreuth, Galuppis La caduto di Adamo (Titelrolle) mit dem Helsinki Baroque Orchestra in Helsinki und am MusikTheater an der Wien sowie L'italiana in Algeri (Lindoro) an der Ljubljana Oper.
Aco Bišćević hat kürzlich an einer Aufnahme von Cavallis Il Xerse (Rolle des Elviro) beim Festival della Valle d'Itria in Martina Franca unter der Leitung von Federico Maria Sardelli mitgewirkt, die bereits als DVD (Label Dynamic) verfügbar ist und diedemnächst auf CD (Naxos) erscheint. Außerdem hat er mit dem Barockorchester der Thüringen-Philharmonie unter der Leitung von Michael Hofstetter bislang unveröffentlichte, hochvirtuose Tenorkantaten von Carl Heinrich Graun aufgenommen (Erscheinungsdatum: Januar 2024 unter dem Label Accent).
Gemäß der historischen Aufführungspraxis tritt Aco Bišćević häufig in Liederabenden auf, bei denen er am Klavier oder Hammerflügel begleitet wird. Da er ein versierter Pianist ist, begleitet er sich auch sehr gerne selbst.