06. Juni 2022
Feuilleton
©Internationales Musikfestival Hamburg / Motto Natur
Plötzlich war der Himmel über Hamburg wieder blau, die Luft glasklar und der Lärmpegel der vorübersausenden Flugzeuge einer beängstigend gespenstischen Stille gewichen.
2020 war das Jahr der Pandemie, in dem wirklich alles zum Erliegen kam. Keine Reisen, keine Restaurantbesuche, keine Konzertbesuche, nichts ging mehr. Ich schaute konsterniert in die Röhre und nahm es mit der Redewendung so wortwörtlich, dass ich meiner klassikaffinen Leidenschaft per Live-Stream und Video-on-Demand vom eigenen Sofa aus stur wie noch nie nachging - mehr widerwillig als freiwillig wohlgemerkt.
Es blieb mir schließlich auch nichts anderes übrig, denn die hehren Musentempel waren bis auf Weiteres geschlossen. Die einzige Alternative lag im medialen Wunderwerk des digitalen Opern- und Konzertvergnügens.
Also fand ich mich zuerst resigniert mit der Tatsache ab, dass Couchsurfing zu meiner neuen Freizeitbeschäftigung werden sollte, stellte jedoch alsbald dankbar fest, dass ich mich relativ gut mit dem digitalen Angebot arrangieren konnte.
Zumindest schalteten so viele mutige und innovative Künstler ihre "Wohnzimmerkonzerte" viral, dass mein Geist gesättigt und mein Bedarf an musikalischen Glücksdosen hinreichend gedeckt wurde: Und dennoch: Die Bühne, das Publikum, die aufgeregte Stimmung im Auditorium, das ganze Drumherum gingen mir doch sehr ab.
Social-Distancing, das Unwort des Jahres überhaupt, glich viel mehr einem isolierten sozialkulturellen Anti-Dasein, das sich nunmehr auf die eigenen vier Wände beschränkte und gerade Mal als fauler Kompromiss durchging und mir zu keinem Zeitpunkt (auch nicht während der jeweiligen Lockdownphasen) ein gangbares konzertantes Zukunftsmodell offenbarte.
©Nicole Hacke / Operaversum
Doch der Umwelt kam genau diese konzertabstinente Verschnaufpause extrem zugute, die CO₂-Bilanz ließ sich endlich mal sehen, denn niemand jettete mehr auf Kosten unserer wichtigsten Ressource durch die Welt. Die Natur konnte sich endlich von den Auswirkungen des Kultur-Tourismus erholen.
Doch was, mag man sich nun verständnislos fragen, hat Kulturgenuss mit Umweltsünde und überhaupt mit Tourismus zu tun, wenn das doch eigentlich nur Urlauber und Geschäftsreisende betreffen kann?
In Maßen und vor der eigenen Haustür genossen tatsächlich nicht so viel, wenn man die andere Seite der Medaille, nämlich die CO₂-Sünden der großen Opernbetriebe mal ganz außen vor lässt.
Aber was, wenn man einer kulturellen Völlerei erlegen ist, bei der es nicht mehr nur darum geht, sich im Opern- und Konzerthaus vor Ort seine bescheidenen monatlichen Dosen geistreicher Zerstreuung zu verabreichen.
Was, wenn das eigentliche CO₂-Problem durch die sogenannten (oftmals maßlos übertriebenen) Jet-Set-Reisen an kulturell einzigartige Standorte verursacht wird und zunehmend sogar noch durch die "Hinterherreiserei" von begehrten Sängerinterpreten befeuert wird?
©Nicole Hacke / Operaversum
Noch vor der Corona-Krise traf ich auf Menschen (mich einbeziehend), die von Pontius zu Pilatus pilgerten, nur um ihren Lieblingsinterpreten auf Konzerttournee in die abgelegensten Winkel Europas zu folgen. Heute ein Konzert in Rom, morgen ein Konzert in London, übermorgen in Wien und so weiter und so fort.
Auf den ersten Blick scheint so ein ausufernd pralles Kulturleben verlockend, bringt immens viel Spaß und fühlt sich so an, als lebte man das Leben des Künstlers in seinem eigenen Paralleluniversum intensiv, hautnah und auf der Überholspur einfach mal so mit. Wie toll! Oder etwa doch nicht?
Denn wie wir alle wissen, macht Völlerei auf lange Sicht nicht wirklich glücklich, sondern übersättigt, wie in diesem Fall, den Stimulus des Geistes und das Gewöhnungszentrum.
Irgendwann wird das Besondere zum Alltäglichen, wird das Alltägliche zur Norm, wird die Norm zur ermüdenden Routine und die Routine letztendlich zum ultimativen Bore-Out. Schon wieder der Kaufmann!
Fast genervt hörte ich mich diese Worte just nach der vierten Vorstellung eines exzessiv ausgereizten Konzertmarathons still im Geiste herunterbeten. Lass es bitte zu Ende gehen.
Den letzten Satz kaum ausgesprochen, folgte kurz darauf der erste Lockdown und damit einhergehend kam die herbe Ernüchterung, dass es für mich so nicht weitergehen konnte, weder dem luxusgetriebenen Kulturgenuss zuliebe noch meinem mit äußerster Dringlichkeit anklopfenden Umweltbewusstsein zum Nachteil.
Stattdessen überlegte ich mir, wie leidenschaftlicher Kulturgenuss anders erfahrbar, erlebbar, einzigartig und abwechslungsreich bleiben und ich damit noch meinen CO₂-Fußabdruck nachhaltig verringern könnte.
Die Antworten fanden sich nicht so schnell, denn vernünftig, nachhaltig und verantwortungsbewusst auf Kulturreise zu gehen bedeutete Abstriche zu machen und damit mehr als einem lieb war, auch mal knallhart auf das eine oder andere Konzert oder Opernerlebnis zu verzichten. Völlerei war gestern. Bewusst genießen, Prioritäten setzen, um so Klasse statt Masse zu konsumieren, war ein Umkehrprozess, der erst geübt sein wollte.
Wie ich Konzertgenuss und Umweltbewusstsein seit Pandemiebeginn miteinander vereinbar gemacht und so für mich auf einen Nenner gebracht habe, zeige ich im Folgenden auf:
©Nicole Hacke / Operaversum
Fliegen geht schnell. Viel zu schnell, um überhaupt zu realisieren, dass man noch vor einer knappen Stunde aus einem anderen Land kommend, ganz plötzlich vertraute Sprach-, Mentalitäts- und Kulturbrücken hinter sich abgebrochen hat, nur um sich plötzlich in einem völlig anderen Kulturkreis, einer fremden Sprache und einem ebenso fremden Umfeld wiederzufinden.
Fluch oder Segen? Verwirrend oder erhebend? Schlimm ist in jedem Fall der CO₂-Ausstoß, den man der Umwelt hätte ersparen können, wäre man beizeiten auf den Zug umgestiegen.
"Das dauert doch viel zu lange" höre ich die Einwände bereits der Reihe nach auf mich niederprasseln. Natürlich ist die Reisedauer ein valider Einwand, sich für das schnellere Fliegen und gegen das langsamere Zugfahren zu entscheiden.
Kurze Distanzen bis max. 5 Stunden kann man dennoch auf der Schiene überbrücken, zumal das Zugfahren ohne die lästigen Wartezeiten am Flughafen vor und nach dem Check-in (Gepäckaufgabe Boarding, etc,) deutlich entspannter sein kann.
Auch kostentechnisch lohnt sich das dadurch attraktiver gewordene Zugfahren mittlerweile mehr, als es die horrenden Flugpreise durch Zeitersparnis überhaupt ausloten können.
Gepäckbeschränkungen gibt es bei der Bahn ebenfalls nicht und der Zielbahnhof liegt meistens so zentrumsnah, dass man bis zu seiner Zielunterkunft relativ geringe Fahrtkosten für Taxi oder Nahverkehr aufwenden muss.
Im Inland lohnt sich die Bahn. Im innereuropäischen Ausland oder bei Transatlantikflügen selbstverständlich nach wie vor das Flugzeug. Nur würde man tatsächlich für ein einzelnes Konzert und damit für wenige Tage der Umwelt zulasten einen Transatlantikflug in Kauf nehmen? Würde man das wirklich tun?
©Nicole Hacke / Operaversum
Hotels gibt es mittlerweile wie Sand am Meer, zumindest seit das online Hotelportal "Booking" den Reisemarkt gehörig aufgewirbelt hat.
Individuelle und insbesondere grüne Hotels in der Großstadt zu finden ist nicht wirklich leicht, der Markt dafür noch nicht flächendeckend und nachhaltig erschlossen. Doch immer mehr Betriebe setzen auf umweltbewusstes Wirtschaften.
Folgende Internetpräsenzen bieten Hotels mit grünem Standard und wenige, aber dafür ausgewählt exklusive Dependancen in der Großstadt an:
www.greenpearls.com
www.biohotels.info/de
Was macht den grünen Standard unter anderem aus:
Viele Stadthotels, insbesondere kleinere familiengeführte Boutique-Hotels, führen regionale Produkte auf ihrem Speiseplan und versuchen Nachhaltigkeit mindestens durch reduzierten Wäscheverbrauch zu minimieren.
©Nicole Hacke / Operaversum
Sicherlich kann man seinem Lieblingsinterpreten mehrmals auf ein und derselben Konzerttournee durch die Lande hinterher reisen.
Man kann es aber auch sein lassen und sich mit einem Konzert ohne den Rattenschwanz der x-ten Wiederholung zufriedengeben. Das spart nicht nur Reisekosten ein, sondern auch CO₂-Emissionen.
Klasse statt Masse bedeutet mir mittlerweile weniger Konzertreisen zu unternehmen, dafür aber über die Monate des Jahres verteilt bewusst ausgewählten Konzerten beizuwohnen, vorwiegend innerdeutsch und hauptsächlich innerhalb meiner Region.
So weiß ich, dass ich etwas Besonderes erlebe, etwas, dass ich nicht zig Mal wiederhole, nur um des Wiederholens willen und der Angst, eventuell etwas ganz Besonderes verpassen zu können.
Mit der "Weniger- ist-mehr" Strategie fahre ich mittlerweile so gut, dass ich vor allem ausgewählte Konzerte meines Lieblingsinterpreten wieder richtig wertschätzen und genießen kann und mich dann ganz besonders auf die musikalischen Highlights freue, zu denen ich tatsächlich etwas weiter Anreisen muss.
Erlebnisse, die man zu oft und zu geballt wiederholt, wetzen sich durch exzessiven Überkonsum leider wie ein Diamant mit der Zeit ab, werden matt und glanzlos und können im schlechtesten Fall sogar verblassen.
©Nicole Hacke / Operaversum
Ein ausgewogenes Mischverhältnis aus musikalischen Live-Erlebnissen und digitalem Konzertvergnügen kann ebenfalls für einen verringerten CO₂-Fußabdruck sorgen und ein oftmals entspannteres und sogar diverseres Erleben von Oper und Konzert ermöglichen.
Der logistische Aufwand entfällt nämlich mit den Streaming-Angeboten der jeweiligen Internetpräsenzen. Der Gang ins Kino lässt sogar Sekt und Popcorn auf den Zuschauerplätzen zu und das Gläschen Wein am eigenen Coutisch wäre bei einem realen Opernbesuch absolut nicht möglich.
Dem gegenüber steht natürlich das ganze Drumherum, angefangen von der bewussten Wahl der Abendgarderobe über das stimmungsvolle Ambiente eines Opern- beziehungsweise Konzerthauses.
Findet das klassische Musikereignis nicht vor Ort statt, stehen zudem die Planung der Reise, das Buchen der Unterkunft und die Wahl gastronomischer Lokalitäten im Vordergrund.
Doch Letztere können auf Dauer extrem schlauchen, denn immer nur planen, ständig Koffer packen, überlegen, was man wo anzieht und in welche Gastrotempel man sich nach einem Konzertbesuch verköstigt, kann zwar anfänglich inspirierende Reiselust fördern, spätestens aber nach unzähligen ähnlich gearteten Reiseerlebnissen für über den Kopf wachsenden Frust sorgen.
Und da man nicht auf jeder Hochzeit tanzen kann und einem oftmals recht schnell das Gefühl überkommt, überall und nirgendwo gewesen zu sein, lebt sich die unstillbare Lust an musikalischer Diversität deutlich besser, vielleicht sogar intensiver mit der Angebotsvielfalt, die durch zusätzliche Kino-Liveübertragungen und Streaming-Angebote hinreichend kompensiert werden kann.
Und die CO₂-Bilanz sagt bei all dem noch Danke!
©Nicole Hacke / Operaversum
Viel überlegt man nicht, wenn man sich bereits in Gedanken den verlockenden Konzertreisen ins nahe gelegene Ausland hingibt. Was kostet denn die Welt, wenn Europa per Flug so gut vernetzt ist und die großen Metropolen überhaupt so einfach erreichbar sind, man heute in Gstaad und morgen schon in London sein kann - und bestenfalls keine begehrte Opernaufführung verpassen muss.
Doch auch im eigenen Land spielt die Musik - und das gerade nicht schlecht. Die Elbphilharmonie in Hamburg, die Bayerische Staatsoper in München, die Oper Unter den Linden in Berlin und die vielen, vielen Festival-Events in den einzelnen Bundesländern stellen so kulturell vielseitige Programme auf die Beine, dass man nicht unbedingt den Blick in die europäischen Nachbarländer schweifen lassen muss.
Das Staraufgebot an Künstlern und Solointerpreten ist gerade in Deutschland enorm groß. Bei 72 Opernhäusern und vier touristisch besonders attraktiven Musentempeln (Semper Oper Dresden, Bayerische Staatsoper München, Elbphilharmonie Hamburg, Staatsoper Unter den Linden Berlin) muss das auch nicht verwundern.
Warum also in die Ferne schweifen, wenn das musikalisch Gute doch tatsächlich so nah liegt und die renommierten Künstler auch sehr gerne von weit über den Atlantik in das Land der Dichter und Denker zu uns geflogen kommen?
Und wenn man dennoch eine Konzertreise über den großen Ozean plant oder aber die innereuropäischen Opernhäuser unsicher machen möchte, dann kann man eventuell den kurzen Aufenthalt für den musikalischen Genuss direkt mit einem Urlaub verknüpfen.
Das eine muss das andere nicht ausschließen. Beide können einander auf das Vergnüglichste bedingen.
Ganz oft habe ich mich zum Wandern in das von München unweit entfernte Werdenfelser Land zurückgezogen, um ein paar Opernvorstellungen in der Hauptstadt der Bayern mit einer kleineren oder längeren Erholungspause zu verknüpfen.
Tatsächlich ist nichts so entspannend wie kulturelles Erleben vor Ort. Und man tut der Umwelt dadurch viel Gutes, indem man nicht ständig von A nach B hin und her reisen muss, sondern zumindest im Unterwegssein bewusst kürzere Distanzen überwindet und längere Reisestrecken mit einer selbstverständlich ausgedehnteren Auszeit in der Kulturregion verknüpft.
©Nicole Hacke / Operaversum
besser gesagt mit den Dirigenten, Solointerpreten und Orchestern?
Diese fliegen nämlich ständig in der Weltgeschichte umher, um alle Metropolen musikalisch zu bedienen und damit alle Konzertbesucher zufriedenzustellen.
Das wiederum treibt den CO₂-Ausstoß in die Höhe, lässt sich aber leider nicht von heute auf morgen abstellen, denn das Einschränken der Reisetätigkeit bedeutet wegfallende Engagements und die Chance, international wahrgenommen zu werden.
Wer nämlich nicht an der Met singen kann, weil er seine Reisetätigkeit einschränken muss, kann die internationale Karriere langfristig knicken und stuft unumgänglich seinen Bekanntheitsgrad auf Landesebene weit herab.
Zeitgemäß ist das nicht. Und auch die Frage, ob Künstlerinterpreten ihr teils exorbitant hohes Bühnenpensum, ergo ihre Anzahl der überhäuften Auftritte in Europa und der Welt auf ein vertretbares Minimum reduzieren könnten, stellt sich erst gar nicht, wenn man genau weiß, dass Geld immer noch die Welt regiert.
Feste und langfristige Engagements für Weltstars an renommierten Opernhäusern schließen sich ebenfalls aus, denn wo kämen denn die Fans hin, wenn sie ihren Lieblingskünstler nicht wenigstens ein Mal im Jahr in der eigenen Stadt erleben könnten.
Da bleibt im ersten umweltbewussten Schritt nur das Verhalten des eigenen Konzertkonsums zu justieren, mehr Bahn statt Flug zu nutzen, sich auf eine ausgewogene Mixtur von Live- und Livestream Highlights zu fokussieren, Opern- und Konzerterlebnisse nach individueller Wichtigkeit, ergo Bedeutsamkeit zu selektieren und den Hotelunterkünften, wenn möglich, mit grünem Ökosiegel den Vortritt zu lassen - und das vielleicht deutlich konzentrierter im eigenen Land.
Klasse statt Masse: Musik bewusst genießen, selektiv und prioritär, kann zum großen selbstbestimmten Privileg werden, sodass die riesige, mitlerweile unübersichtlich gewordene Opern-und Konzertauswahl nicht mehr zur Qual wird, sondern zu einem selbstbestimmten Vergnügen größtmöglicher Unabhängigkeit von Konsumzwängen und "Fear-of-missing-out" Syndromen avanciert.
Bewusster, gesunder und dennoch vergnüglicher Kulturgenuss kann dann mit kleinen Schritten langsam aber sicher ein großes Stück weit der Umwelt nachhaltig zugute kommen.
©Brescia e Amisano / Teatro alla Scala 2021
Als sich die Oper noch in ihrer Blütezeit befand, einige Jahrhunderte ist es her, scherte sich niemand darum, ob nicht irgendwann einmal der Zenit ihrer Daseinsberechtigung überschritten sein würde.