08. Juli 2022
Feuilleton
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Erst kürzlich stolperte ich über ein Interview eines sehr bekannten Opernsängers, der sich so dermaßen rügend über die modernen, viel zu abstrakten, teils unplausiblen Operninszenierungen der heutigen Zeit echauffierte, dass er sogar deklarierte, die klassische Musikkultur würde nicht etwa durch die noch gegenwärtige Pandemie dem schleichenden Untergang geweiht sein, sondern vielmehr durch die so schrecklichen, kontextfremden Regiekonzepte, die wohl kein Opernbesucher mehr verstünde.
Dass Menschen allein nur deshalb in die Oper gehen, um sich von schön klingender Musik und historisch überholter Bühnenromantik 3-5 Stunden berieseln lassen zu wollen, kann dieser Tage allerdings auch keine hauptsächliche Motivation mehr sein, denn schließlich lebt die Oper von der Kontroverse, dem Diskurs und der geistreichen Auseinandersetzung.
Eine heile, total verfälschte Opernidylle abbilden zu wollen, die an längst vergangene Zeiten erinnert, mit denen sich insbesondere jüngere Menschen kaum noch identifizieren können, klingt mir daher etwas zu weltfremd und vielleicht auch zu wenig aufgeschlossen.
Eine heile Opernwelt gibt es sowieso nicht, außer in der Opera buffa. Aber auch die muss hin und wieder szenisch überholt, abgestaubt und einer Frischekur unterzogen werden, damit sie nicht irgendwann in der Lächerlichkeit der realitätsfremden Historie versinkt.
Prinzipiell habe ich auch gar nichts gegen gut gemachte Historiendramen. Im Film sind sie meistens sowieso genial mit aktionsgeladenen Details angereichert.
Und ja, auch ich kann nicht verneinen, dass mich opulente Kostüme, rauschende Reifröcke und herrlich frisierte Rokokopüppchen faszinieren.
Warum auch nicht?
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Nur wenn die Dramaturgie innerhalb der Inszenierung schlussendlich an der Steifheit und Unbewegtheit der Bühnendarsteller scheitert und einem das untrügliche Gefühl beschleicht, dass alles einfach nur überromantisiert, zuckerübergossen und dann noch gewaltvoll stilisiert in eine nachgeäffte Vergangenheit gebogen wird, dann ziehe ich moderne, schlichte, zeitgemäße Handlungsinterpretationen viel lieber einer rokokoschweren Opernglasur vor.
Letztendlich brauchen Dramen nicht unbedingt in einem originalgeschichtlichen Kontext verhaftet werden, sondern können leicht in jeder anderen Epoche und somit auch in der heutigen Gegenwart und nahen Zukunft spielen, denn ihre Geschichten sind nach wie vor so zeitlos aktuell (vielleicht nicht mehr so ganz brisant wie in der Vergangenheit) wie die Gegenwart selbst.
Außerdem macht es das digitale Zeitalter vor. Vielleicht überholt uns die Zeit sogar schneller als wir bis drei Zählen können. Und das bedarf einer Anpassung in vielen Bereichen.
Warum sollte also die Oper hintanstehen. Warum sollten moderne Regiekonzepte nicht funktionieren können?
Die Antwort darauf lautet: Der perfekte Mix aus allem macht mit höchster Wahrscheinlichkeit das Süppchen einer gelungenen Opernregie rund, sodass die Entscheidung zwischen altmodischer Verstaubtheit und abstrakter Ultramodernität sowie traditioneller Ursprünglichkeit und innovativem Zeitgeist gar nicht erst gefällt werden muss. Weder das eine noch das andere ist für sich allein stehend optimal.
Doch der goldene Mittelweg kann der Oper zu einer schnörkellosen Zeitlosigkeit verhelfen, die jeder versteht und annehmen kann, im Jetzt und Hier, im Morgen und Übermorgen und auch noch zukünftig.
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Doch was genau meine ich mit schnörkelloser Zeitlosigkeit?
Mir fällt prompt ein Werk ein, dem ich diesen Stempel gerne aufdrücken würde, nämlich der Inszenierung von Verdis Otello am Royal Opera House in London aus dem Jahr 2018.
Mir scheint es dabei unerlässlich zu erwähnen, dass Jonas Kaufmann die Rolle des Protagonisten just in der damaligen Produktion bekleidete.
Warum unerlässlich?
Wohl weil eine gut gemachte zeitlose Inszenierung immer auch eine 50/50 Chance darstellt, die zum einen von der Inszenierung, zum anderen vom dramaturgisch-musikalischen Gestaltungsrahmen abhängt.
Und da treten nun mal die Sängerdarsteller mit ihren gesanglichen und schauspielerischen Talenten im gesteigerten Maß in den Vordergrund.
Sie gestalten die Szene, die Inszenierung mit einem Höchstmaß an Schauspielkunst und ästhetisch ausdrucksstarkem Schöngesang in entscheidender Weise mit und aus.
Damit aber genau diese beiden Faktoren besonders gut zur Geltung kommen können, muss das Regiekonzept so gut gemacht sein, dass Musik und Szene darin eine perfekte Symbiose bilden können.
Und genau diese Kongruenz war in der Londoner Produktion des Regisseurs Keith Warner absolut zu spüren. Mit reduziertem bühnenbildtechnischen Aufwand, wohl dosiert eingesetzten Requisiten und einem sehr abstrakten Bühnenbild, das schwarz wie die Nacht über alle drei Akte der Verdi-Oper bis auf wenige Ausnahmen schlicht blieb, legte Warner ein für mich einfaches, aber dennoch wirkungsvolles szenisches Fundament, um so das Psychogramm des Otello detailgenau herauszubilden.
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Dass historiengetreue Kostüme die moderne Inszenierung stark kontrastierten, irritierte überhaupt nicht, denn sie sorgten für ein konklusives Gesamtbild und bewirkten, dass die jeweiligen Rollencharaktere nicht nur optisch deutlich konturierter in den Vordergrund traten.
Denn szenisch war in dieser ultramodernen Bühnenbildgestaltung absolut nichts zu holen. Der Fokus lag einzig und allein auf dem Schauspiel und der Musik, die gleichberechtigt für die emotionale Temperatur des Dramas sorgten.
Und obgleich ich anfänglich sehr darüber enttäuscht war, mir ein Zypern im 16. Jahrhundert visualisieren zu müssen, anstatt es bühnenbildtechnisch auf dem Silbertablett serviert zu bekommen, verstand ich doch relativ schnell, dass es vielmehr darum ging, das psychogrammatische Beziehungskonstrukt der einzelnen Charaktere zueinander zu verstehen.
Wer war der Mensch Otello? Warum manipulierte Jago Otello und intrigierte noch dazu gegen ihn? Und welche Rollen spielten all die anderen Protagonisten in der düsteren Tragödie? Wer und was trieb Otello in den Wahnsinn und mit welcher Intensität?
Dass man die Handlung auch auf irgendeiner anderen Insel hätte spielen lassen können, blieb der eigenen Fantasie überlassen. Eigentlich war es auch völlig irrelevant. Denn was die Londoner Interpretation wirklich zu einem absoluten Opernthriller gemacht hat, hatte vielmehr mit der psychologischen Intensität, Emotionalität und Tiefe der handelnden Akteure zu tun.
Intensität! Emotionalität, psychogrammatische Tiefe! Das allein waren die Zutaten für einen höchst spannungsgeladenen Handlungsverlauf, der sich in Warners Inszenierung sinntief durch den Dreiakter der epischen Verdi-Oper zog.
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Und noch eines schien mir ganz wichtig in der so vereinnahmenden Londoner Inszenierung zu sein! Die kontrollierte Ekstase, mit der die Echtheit der Gefühle so überzeugend auf das Publikum abstrahlte, dass sie zu einer wichtigen Essenz wurde, die aus Verdis Meisterwerk statt eines einfachen Bühnenschauspiels ein lebendiges, packendes Drama kreierte.
Natürlich erfordert so eine realitätsnahe Darstellung eines Werkes immer auch ein gewisses Maß an schauspielerisch und gesanglich kontrollierter Grenzüberschreitung, damit die Vorstellung packende, elektrisierende und spannende Gänsehautmomente erzeugen kann.
Denn das ist genau das, was ich von einer gut inszenierten Oper erwarte. Dass sie den Schauspielern eine Bühne bereitet, auf der sie gesanglich und darstellerisch zu 100% überzeugen und zur Höchstform auflaufen können. Nur so kann ein Drama zum Leben erweckt werden, nur so kann es sein Publikum in den Bann ziehen.
Was wäre ansonsten die alternativlose Totalpleite eines gänzlich misslungenen Regiekonzepts?
Eine konzeptionell in sich nicht schlüssige Inszenierung. Die nämlich macht es Sängerdarstellern immens schwer, sich in ihre jeweiligen Rollen hineinzuversetzen, was am Ende dazu führt, dass sie sich auf der Bühne darstellerisch behindern und sogar selbst ausbremsen. Im schlimmsten Fall agieren sie dann sogar gesanglich lediglich auf Sparflamme.
Und das hat einen unvorteilhaft kaskadenartigen Effekt auf das Publikum. Lächerlich, plump, stümperhaft, unverständlich und extrem handlungsfern kann so ein sängerdarstellerisches Malheur dann auf die Zuschauer im Auditorium wirken.
Damit läuft das gesamte Regiekonzept Gefahr, wie ein Kartenhaus in sich zusammenzufallen, denn man glaube es oder nicht, so gut wie alles steht und fällt mit der Überzeugungskraft der Akteure auf der Bühne.
Und eine einmal verhunzte Operninszenierung kann dann auch nicht mal so eben durch die Protagonisten gerettet werden.
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Das Letzteres tatsächlich auch passieren kann, zeigt die offensichtliche Entkernung der Persönlichkeit des Otello an der Münchner Staatsoper in einer modernen Regieführung aus dem Jahr 2019, in der ebenfalls Jonas Kaufmann in der Hauptrolle agiert, nur dieses Mal als traumatisierter Kriegsheld.
Otello und traumatisiert?
Das kann man natürlich so machen. Nur scheint die Regie an der charakterlichen Essenz der Figur knapp, aber dennoch vorbeigeschrammt zu sein.
Otello als traumatisierter Kriegsheld. Der Otello, der siegreiche Schlachten geschlagen hat. Der Macho mit der heroischen Strahlkraft, der mit einer harten, kämpferischen Schale gesegnet ist und im Umgang mit Frauen und der Liebe zutiefst ungelenk und barsch daherkommt.
Diese Rollenfigur soll sich in die kaputte Seele eines traumatisierten Menschen zwängen, um am Ende was bitte zu tun?
Desdemona kaltblütig ermorden und sich selbst noch dazu und zwar mit einem lachhaft winzigen Messerchen? Dann hätte es vielleicht auch ein Zahnstocher getan, nur um der Lächerlichkeit der Szene eine Absurdität zu verpassen, die ein verzerrteres Charakterbild nicht hätte produzieren können.
©Catherine Ashmore / Royal Opera House London
Es ist richtig: Menschen machen nun mal Theater, mal besser, mal schlechter. Manche machen es sogar besonders gut und arbeiten mit Sorgfalt und Tiefenwirkung an einer Werkinterpretation, um die Kernbotschaft, die Quintessenz wie einen hoch konzentrierten Saft aus dem Stück herauszupressen.
Zum Glück gibt es solche Regisseure, die zwischen den Zeilen lesen, Charaktere tiefenpsychologisch auseinandernehmen und so behutsam wieder zusammensetzten können, dass sich jeder, ob Sängerdarsteller oder Zuschauer, emotional in den Menschen hinter der Rollenfigur problemlos hineinversetzen kann, egal in welcher Epoche die Handlung verortet wird und unabhängig davon, wie modern die Inszenierung ausfällt.
Nur so schaffen es auch die Opernsänger eine realistische Interpretation auf der Bühne abzuliefern, die menschlich greifbar, nahbar und berührend wirkt und wird.
Und nur dann ist es letztendlich Magie, nur dann wird aus Gesang, Schauspiel und Szene ein harmonischer Einklang, der nicht vordergründig das Historiendrama in "polarisierender Modernität" im Scheinwerferlicht erstrahlen lässt, sondern den Rollencharakteren zu einer Menschlichkeit verhilft, die mithilfe der Inszenierung Herzen erreicht und Seelen durchdringt.
Dann nämlich materialisiert sich die Magie ganz plötzlich, wird erfahrbar durch die hypnotische, verzaubernde Kraft der Musik und des Schauspiels, getragen von einer durchdachten Inszenierung, die dem Werkgedanken Kontur, Textur und Farbe verleiht.
Nur dann ist es auch ganz große Oper, die auch dann noch bereichernd sein kann, wenn sie für Opernregisseure als polarisierend diskursives Instrument dient, um größere oder kleinere sozialgesellschaftliche Fragen unserer Zeit aufzuwerfen. Oder?
©Royal Opera House London / Über youtube zur Verfügung gestellt
In die Geheimnisse des musikalischen Genies von Verdis Otello entführen der Dirigent Sir Antonio Pappano und der Startenor Jonas Kaufmann. Während einer Gesangsprobe diskutieren die beiden die jeweiligen Arien des Hauptprotagonisten und gehen dabei auf die Qualität der Musik, den musikcharakterlichen Facettenreichtum und die emotionale Vielschichtigkeit des Werks ein.
©Royal Opera House London / Über youtube zur Verfügung gestellt
Ausschnitt aus der Otello Produktion am Royal Opera House in London aus dem Jahr 2018. Jonas Kaufmann in einer Glanzrolle komplett in seinem Rollencharakter aufgehend.