08. April 2024
Feuilleton
©Nicole Hacke / Operaversum
In Griechenland brennen die Wälder! Der Harz in Deutschland ist bereits kahlgeschoren. Das große Baumsterben hat ein riesiges Loch in unsere Natur gerissen.
Schließlich hat man jahrzehntelang auf ertragreiche Monokulturen gesetzt und gehofft, man könne so der Natur ein Schnippchen schlagen. Doch der von Menschenhand ausbeuterisch initiierte Eingriff in die natürlichen Ökosysteme hat nun leider zur Folge, dass wir für etwas längere Zeit mit schrumpfenden Waldbeständen zu kämpfen haben werden.
Die gekippten Ökosysteme ziehen neben den katastrophalen Umwelteffekten ebenfalls eine Kette wirtschaftlicher Defizite nach sich. Die Wiederaufforstung wird Ewigkeiten dauern, der Tourismus bleibt der Region perspektivisch unter Umständen fern.
Von Nicole Hacke
Seit geraumer Zeit zeichnet sich auch in einer ganz anderen Kultur ein schleichender, immer rapider voranschreitender Prozess ab, der einem Waldsterben gleichkommt:
Die klassische Kulturbranche leidet ebenfalls unter ihrem eingleisigen Ökosystem!
Bereits kurz nach der Pandemie war zu erleben, wie sich plötzlich Opern- und Konzerthäuser nicht mehr füllten und wie es von Heute auf Morgen erschreckend einfach wurde, Karten wenige Tage vor der Veranstaltung für begehrte Künstler zu ergattern, die normalerweise immer schon Monate im Voraus ausverkauft waren.
©Nicole Hacke / Operaversum
Das war eine völlig neue Erfahrung, ungewohnt und zugleich ziemlich ernüchternd. War das die logische Konsequenz eines Lockdowns, dass die Menschen plötzlich mit Streams, Live-Übertragungen und Instagram-Videos viral ganz gut bei Laune gehalten werden konnten und damit auch noch ganz wunderbar auskamen?
Potenziert durch die Angst, sich draußen irgendwo anzustecken, getestet, geimpft, nochmal geimpft und schon wieder geimpft sein zu müssen, blieb die Mehrzahl der klassikaffinen Musikliebhaber dann doch lieber resigniert zu Hause.
Während mich das alles überhaupt nicht störte und ich nach Freiheit und musikalischer Zerstreuung im Außen suchte, in einer gottlosen Zeit, die mir so quälend hoffnungslos, zermürbend und nahezu ohne Perspektive vorkam, bahnte sich klammheimlich eine Entwicklung an, vor der sogar prominente Sänger warnend den Zeigefinger hoben.
Wenn man die Kultur als systemirrelevant abstempelt, dann tut das etwas Ungutes mit der Gesellschaft. Im schlimmsten Fall wird der Glaube an diese kulturnegierende Haltung sogar noch tief in uns geschürt und so dermaßen verinnerlicht, dass die pandemisch verargumentierten Restriktionen eine Erklärung dafür sein könnten, warum die Kultur im Allgemeinen und die klassische Musik im Besonderen dieser Tage deutlich an "Systemrelevanz" eingebüßt hat.
Doch halt! So einfach kann man sich mit dieser scheinbar in sich schlüssigen Erklärung nicht abspeisen lassen. Fakt ist nämlich auch, dass die Pandemie in unausweichlicher Folge wirtschaftliche Löcher in alle möglichen Kassen gerissen hat und somit das Geld in der Bevölkerung insgesamt knapper geworden ist. Die Inflation hat rigoros sämtliche Zacken aus der Kulturkrone gerissen.
Davon verschont blieben die sozialen Medien, die ganz offensichtlich sogar noch gestärkt aus dieser repressiven Entwicklung hervorgingen und von der Pandemie sogar noch kräftig profitiert haben. Aber warum? Seien wir ehrlich:
Es kostet weder Geld noch großen Aufwand, Reels, Stories und Live-Videos auf den sozialen Kanälen abzurufen. Es kostet einfach nichts, außer der Zeit, die wir vielleicht stundenlang damit verplempern, uns durch die unzähligen, endlosen Posts irgendwelcher Accounts zu zappen. Und natürlich ersetzten die sozialen Medien in keinster Weise die eigentlichen Opern- und Konzertbesuche. Mitnichten!
Jedoch muss man kapitulierend hinnehmen, dass sich das Rad der kulturellen Selbstverständlichkeit seit der Pandemie um 180 Grad gedreht hat. Was noch davor ein Selbstgänger war, nämlich vor die Haustür zu treten und keine Kosten und Mühen zu scheuen, um für ein Konzert oder einen Opernbesuch auf Reisen zu gehen, ist mittlerweile für eine Vielzahl von klassikaffinen Menschen eine Frage der Prioritätensetzung und der Größe des Geldbeutels geworden.
Wer sich dieser beiden Fragen ernsthaft stellen muss, greift zur Not auf das Opern-Live-Stream-Angebot der jeweiligen Kultureinrichtungen und die sozialen Medien zurück, von denen Letztere mittlerweile zu den besten Werbeplattformen der Branche avanciert sind.
Opernsänger, Dirigenten und Solisten aus allen Genres tummeln sich dort, machen Werbung in Eigenregie, etablieren dort ihren Marktwert, bauen ihre eigene Künstlerbrand, ihre “Unique-Selling-Proposition", auf und tun genau das, was ansonsten niemand für sie tut – die Werbetrommel rühren!
Denn andere Werbetrommeln gibt es nicht, jedenfalls nicht für Künstler, die noch auf dem Weg sind, den Sängerolymp zu erklimmen.
Tatsächlich hat die Digitalisierung einen Riesensprung in die Zukunft von morgen gemacht, was den sozialen Austausch im öffentlichen Raum minimiert und den viralen Austausch auf Facebook, Instagram, Tiktok und Twitter scheinbar immer mehr befeuert.
Müssen wir also befürchten, dass sich zukünftig eine riesige Lücke zwischen dem konventionellen “Opernerlebnis” und dem progressiven Konsumieren von häppchenweise dargereichten “Opern-Amuse-Gueules" in den sozialen Medien auftun wird?
©Nicole Hacke / Operaversum
Schließlich macht es immer mehr Menschen wirklich Spaß, sich auf YouTube eine Vielzahl kurzer Ausschnitte von bekannten Opernaufführungen mit ebenso bekannten Opernsängern anzuschauen, im dreiminütigen Takt Reels auf Instragram herunterzuscrollen, wenn es geht auch gerne kürzer, schon allein wegen der zunehmend schrumpfenden Aufmerksamkeitsspanne.
Schnell muss es gehen. Wer hat schon Zeit, sich stundenlang mit einer einzigen Oper auseinanderzusetzten?
Doch wird einem bei all der instantanen Verfügbarkeit nicht nach einer Weile blümerant, wenn ein Kurzvideo nach dem anderen aufploppt und man nicht mehr weiß, bei welchem Sänger, welchem Post oder Reel man angefangen und wo und mit was man eigentlich seine vermeintliche “Kurzschau” beendet hat.
Man lässt sich medial berieseln und merkt erst Stunden später, dass man sich während dieser sinnlosen Zerstreuungsflut ganz locker sogar eine zusammenhängende dreistündige Oper hätte ansehen können.
Die virale Kette nimmt und nimmt kein Ende. Eine Weltumrundung ist fast gar nichts dagegen, oder?
Es ist ein Konsumieren von medialen Daten, mit dem die Aufmerksamkeitsspanne tatsächlich bedenklich schrumpft. Ob man bei exzessivem Konsum verblödet? Nun, fragen Sie doch einfach mal ihren Arzt oder Apotheker! Oder reflektieren sie ihr ungewöhnliches sozial-mediales Verhalten doch einmal selbst! 1500 Beiträge pro Tag bilden mittlerweile den Durchschnittswert der konsumierten Inhalte auf den sozialen Kanälen.
Und die selektive Nutzung der sozialen Medien? Die kann doch sicherlich auch Vorteile mit sich bringen, oder?
Tatsächlich kann man mit ganz viel Glück dadurch sogar den Einstieg in die klassische Musik finden. “Aber bitte, wie kann man nur!”, höre ich es da bereits aus der fachsimpelnden Ecke tönen. "Kein Stream, kein Videoausschnitt einer Opernaufführung kann das Live-Erlebnis ersetzten oder gar toppen. "
©Nicole Hacke / Operaversum
Stimmt auch wieder! Ein Live-Erlebnis ist immer besser als ein qualitativ minderwertigerer Stream. Ein Live-Erlebnis ist unbeschreiblich, einzigartig und so atmosphärisch, dass das Unsinnwort der fiktiven Protagonistin Marry Poppins das Gefühl eines Opernbesuchs glasklar auf den Punkt bringt: Superkalifragelistigexpialigetisch!
Aber wer weiß denn schon um das superlativistische Erlebnis, der noch nie ein Opernhaus betreten hat?
Wer kennt die Opernsänger der Gegenwart? Wer weiß um den Nachwuchs? Wo findet man diese Informationen, wenn man noch nie Berührungspunkte zur Oper und zum Genre der klassischen Musik hatte?
Und genau das ist der Knackpunkt. Es gibt keine bahnbrechende Transparenz, um Neueinsteiger auf die Oper aufmerksam zu machen, sie darauf vorzubereiten, sie quasi mit der Nase darauf zu stoßen und im besten Fall sogar ein "Haben-Wollen-Gefühl" damit auszulösen. Moderne Inszenierungen und moderne Opern gehören meines Erachtens ganz sicher nicht dazu.
Doch zum Glück stehen die großen Opernhäuser an sehr großen, einsehbaren Plätzen, stets omnipräsent! Somit wird auch ein Nicht-Operngänger beispielsweise die Arena di Verona kennen, wenn er oder sie bei einer Italienreise an der wunderschönen Piaza Brà einmal eine Kaffeepause eingelegt hat.
Und auch in Wien, das bekannt ist für seine Sacher-Torte, die Spanische Hofreitschule und die unübersehbare Caféhauskultur, hat man sicherlich auch von der Wiener Staatsoper mit ihrer beeindruckenden Architektur gehört und vielleicht sogar gesehen, auch wenn man dem Haus noch nie von innen einen Besuch abgestattet hat.
Und dennoch fragt man sich: Wer kennt dort die Sänger, das Programm und die Opern, die in der Wiener Staatsoper aufgeführt werden? Wer weiß, was Oper leisten und welch süchtig machendes Faszinosum Oper überhaupt sein kann?
Ich behaupte, nur eine hör- und fachgeschulte Minderheit sowie hochgradig enthusiasmierte und eingefleischte Opernfans wissen davon, die Wiener natürlich auch. Aber ansonsten sind das im Weltgeschehen nicht allzu viele Menschen.
Wieso, weshalb, warum ist denn auch die klassische Musik so ein absolutes Nischenprodukt? Oh, habe ich jetzt das Wort Produkt erwähnt? Bei Produkt denkt man ja peinlich berührt immer auch gleich an Werbung, Marketing und, oh Gott, Kommerz!
Raus ist es, das schlimme, schlimme Wort! Kommerz.
Aber kommt die Branche in der aktuell volatilen Lage, in der sie möglichst neues Publikum gewinnen muss, nicht um die Werbung drum herum, zumal sie doch mit ihrer Kunst gutes Geld verdienen sollte, um am Ende nicht mit Pauken und Trompeten sang und klanglos unterzugehen?
©Nicole Hacke / Operaversum
Ich glaube, gute Werbung wird notwendig sein! Vor allem glaube ich, dass wir nicht einfach nur stolz auf 400 Jahre Operngeschichte zurückblicken und uns darauf und auf den Komponisten vergangener Tage ausruhen sollten.
Was hier und jetzt zählt ist die Gegenwart und das, was die jungen aufstrebenden Sänger, Solisten und Dirigenten aus dieser 400 Jahre alten Musik machen, das, was sie mit ihr gestalterisch, aber vor allem emotional in die Welt von heute tragen: Jung, frisch, modern, individuell interpretiert und im “Heute” angekommen.
Schließlich haben 400 Jahre keine nennenswerten Veränderungen im menschlichen Sein und Fühlen bewirkt. Deshalb wird Musik, ob ihrer Zeitlosigkeit, auch nicht umsonst der Schlüssel zur Seele genannt.
Doch im Außen sieht die Bevölkerungsmehrheit nicht viel von der Welt, die sich in Opern- und Konzerthäusern abspielt. Die Verbindungsbrücke in das “Reich der schönen Künste” ist für viele weitestgehend gekappt. In der öffentlichen Wahrnehmung außerhalb der "Opernexpertise" existiert die Oper schlichtweg nicht oder sie wird als etwas gänzlich in die Jahre gekommenes, verstaubtes Beiprodukt eines historischen Erbes wahrgenommen, das nur um seines Historiengehalts wegen immer und immer wiederbelebt werden muss.
Fakt ist, wer sich der modernen Marketinginstrumente dabei nicht bedienen kann, wer nicht sichtbar ist und sich nicht auf höchst attraktive Art in die Sichtbarkeit drängt, existiert leider auch nicht!
Das beste Beispiel für eine gut gemeinte, aber nicht wirklich durchgreifend effiziente Marketingmaßnahme hat vor wenigen Jahren die Bundeskunsthalle in Bonn mit ihrer Ausstellung: Die Oper ist tot, es lebe die Oper! iniziert.
400 Jahre Operngeschichte, detailgetreu aufbereitet in einem großen Ausstellungsraum, der die Innenansicht eines Opernhauses nachbildete: Die Idee war grundsätzlich genial. Und dann erst diese nostalgische Zeitreise durch die einzelnen Epochen, Musikstile, Komponisten und Künstler. Beeindruckend.
Allerdings fiel beim Herumwandern durch die einzelnen Räumlichkeiten etwas durch das 400-jährige Raster: Was glauben Sie, was das wohl war?
Nun, es fehlte im direkten Vergleich zu 400 Jahren geballter Operngeschichte der Bezug zum aktuellen Operngeschehen und zum derzeitig gelebten Opernlifestyle.
Es fehlten schlichtweg die aktuellen Vertreter dieser Musikgattung, durch die Oper in unserer heutigen Zeit erst erlebbar wird. Die Vergangenheit kann nur die Basis für das bilden, was Opernliebhaber in der Gegenwart musikalisch auskosten.
Wer will sich dauerhaft in den Schallplatten-Aufnahmen längst verblichener Opernidole verlieren. Und wer will nicht einfach im Jetzt und Hier einem attraktiven Tenor aus Fleisch und Blut an den Lippen hängen. Wer will nicht, die momentane Aura eines Auditoriums genießen, Gesang und transportierte Gefühle in Echtzeit und unmittelbar erfassen wollen, ja, greifbar haben wollen?
©Nicole Hacke / Operaversum
Klingt das für Sie fremd? Oder denken Sie nicht etwa auch, dass es sich bei Ihnen ähnlich verhält?
Warum gibt es ansonsten Fangemeinden, fast könnte man sie als Groupies bezeichnen, die wie aufgeregte Teenager nach Konzertende an den Bühnentüren dieser Welt herumhängen, um ihren Lieblingsinterpreten für ein Autogramm, ein Selfie oder einen kurzen Blickkontakt abzufangen.
Ach, das war Ihnen nicht bekannt?
Diese "Bühnentürperspektive", die für viele Menschen eine überraschende Neuigkeit ist, wirft ein erfrischendes, jugendliches Licht, auf die Opernkunst mit samt ihren Künstlern, die absolut nahbar und authentisch sind und nicht, wie so oft vermutet, abgehoben, elitär und unerreichbar.
Sie sind es auch, die das Herz eines jeden Opernbetriebes bilden und mit einer charismatischen Ausstrahlung absolute Begehrlichkeit wecken. Mit ihnen fängt die Musik überhaupt erst an energetisch auf höchster Ebene zu schwingen, durch sie hindurch in die Welt hinauszutragen und damit im allerbesten Fall sogar Massen zu berühren.
Sie sind der Schlüssel für das Fortbestehen der Opernbranche. Und genau aus dem Grund müssen sie in Zeiten der Digitalisierung nicht nur "onstage", sondern insbesondere "offstage" sichtbar gemacht werden.
Wenn die Oper nicht sterben soll, kann sie nur durch ihre Künstler, die den Zeitgeist der 400 Jahre alten Opernkunst zum Leben erwecken, reanimiert werden.