20. Januar 2022
Rubrik Künstler
©Nadia Romano
Die Musik strömt. Sie strömt schwerelos, frei und unhaltbar in der Sphäre eines abgedunkelten Raumes, der sich irgendwo in einem Kellergewölbe, vielleicht in einer Sakristei oder sogar in einem Probensaal eines Konzerthauses befinden könnte.
Wie ein Schatten hebt sich aus dem nebulösen Dickicht der finsteren Undurchdringlichkeit eine hünenhaft drahtige Gestalt eines Mannes hervor, der mit sanften Fließbewegungen seine langen Finger nach etwas Unsichtbarem auszustrecken scheint, das nicht fassbar, aber so unwirklich klangmalerisch ist, dass es einen sofort tief in der Seele berührt.
Teodor Currentzis, der mit seinem Konventionen sprengenden Dirigat Massen begeistert und sie nahezu magnetisiert, zeigt auf seiner im Lockdown entstandenen CD-Einspielung Fragments, dass die klassische Musik nach ihrem ganz eigenen Pulsschlag erbebt.
So war der Faktor Zeit ein wichtiger Schlüssel für die Entstehung einer einzigartigen Kompilation, die verschiedene Szenen bekannter Opern in ihrer Essenz und damit in ihrem intimsten Kern erfasst.
©Screenshot Video Fragments Teodor Currentzis
Dem griechisch-russischen Dirigenten aus Athen war es dabei ein besonderes Anliegen der klassischen Musik ihren Kommerz zu nehmen, sie von ihrer massenmedialen Bedeutungslosigkeit zu befreien und ihr damit wieder zu strahlender Schönheit und zeitlos unabkömmlicher Eleganz zu verhelfen.
Dafür musste er ihre abgenutzte Oberfläche vollends aufbrechen, um sich so ihrer ureigensten Seele ermächtigen zu können.
Mit dem Prelude aus Verdis drittem Akt der Oper La Traviata und der darauffolgenden Arienszene ist dieses experimentelle Projekt vollends gelungen.
So verschwimmen die Klangbilder ineinander, werden zu einem zart schmelzenden Guss und machen aus Prelude und Szene eine untrennbare Musikeinheit, die durch Currentzis Dirigat und seiner musikalischen Interpretation nunmehr ihren ganz individuellen, unverwechselbar eigensinnigen Zauber offenbart.
©Nadia Romano
Durch einen hauchzarten Schleier aus fein gesponnenen, zerbrechlichen Klangfäden resonieren die fragilen motivischen Streicherseufzer, die sich in der Endlichkeit der tönenden Luft ungreifbar auflösen, so wie die Hauptprotagonistin der Oper ihr Leben gleich einer Kerze aushaucht.
Das Prelude aus La Traviata erzählt von genau dieser Endlichkeit des Seins und der Magie einer immateriellen Musik, die so rein, unberührt und anmutig schön ist, dass sie glatt aus der Natur geboren sein könnte und in der sie mit dem Hauch eines Wimpernschlags just in der Sekunde auch schon wieder erstirbt.
All das geschieht zwang- und mühelos und unterliegt einem natürlichen Transformationsprozess, in dem die Musik nicht mit Gewalt zu einer Metamorphose genötigt wird - dem virtuosen Griechen am Dirigentenpult sei Dank!
Currentzis versteht es wohl wie kaum ein anderer, die Musik aus ihrem verkrusteten Kokon der Abgedroschenheit zu befreien und ihr schmetterlingsgleiche Flügel zu verleihen.
©Screenshot Video Fragments Teodor Currentzis
Und so schwebt, was nicht anders kann und einfach schweben muss.
Dass das Religiöse dabei ein warmes, willkommen heißendes zu Hause in der musikalischen Ausgestaltung findet, ist ebenfalls unüberhörbar. Selbst Verdi wusste seine Werke mit christlichen Motiven zu durchfärben.
Nur bei Currentzis klingt das irgendwie anders, so ganz anders. Befreit von klassischen Gesetzmäßigkeiten und strikter Partiturentreue, entwickelt der Ausnahmekünstler am Taktstock eine tonmalerische Komposition, die an gregorianische Choräle erinnert.
La Traviata verwandelt sich plötzlich in ein makelloses geistliches Werk, das nicht mehr so sehr an ein klassisches Melodram im theatralischen Sinne erinnert.
Bestärkt durch den balsamisch reinen und unbefleckten, in der Atmosphäre verglimmenden Gesang der Violetta, entfaltet sich genau diese tonalcharakteristische jenseitige Strahlkraft zu voller Größe.
Wirklich nichts Arioses, nichts Dramatisches und überhaupt nichts Irdisches haftet diesem unfassbar ätherisch verklärten Schöngesang an.
©Olya Runyova
©Alexandra Muravyeva
Mit tiefer Beseeltheit stellt Currentzis auf seinem Album Fragments alles Dagewesene mit dem Aufwirbeln seines Taktstockes in den Schatten.
Die Versuchung ist deshalb groß, alle bislang erlebten Verdi-Opern als plump, scheppernd und aufdringlich abkanzeln zu wollen, so jungfräulich unberührt und tatsächlich unverbraucht klingt genau das, was Teodor Currentzis aus der Musik des italienischen Komponisten musikparametrisch und emotional herausholt.
Jedenfalls wird man wohl in Zukunft vergeblich nach ähnlichen Klangerlebnissen suchen, die, wenn überhaupt, nur annähernd an den musikalischen Hochgenuss heranreichen, der einem mit dieser außerordentlich genialen Schaffenskunst experimenteller Virtuosität zuteilwird.
©Marina Dmitri
©Fragments Teodor Currentzis / über youtube zur Verfügung gestellt
Der griechische Ausnahmedirigent Teodor Currentzis legt in diesem Trailer seine Beweggründe zur Entstehung seines Albums Fragments offen und erläutert, warum die Zeit während des Lockdowns ein wichtiger Schlüssel für das Gelingen eines einzigartigen, so nie dagewesenen Musikprojektes darstellte.
©Fragments Part I / über youtube zur Verfügung gestellt
Genuss pur entfaltet sich bei diesem klangvollen, einzigartigen Hörerlebnis. Verdis Prelude aus der Oper La Traviata erwacht in einem tonal neuen Gewand, das von gregorianischen Choraleinfärbungen und jenseitiger Entrücktheit durchwirkt ist.
©Morten Krogvold
An einem nordischen Ort unweit des Polarkreises, in einem Land, in denen einst Trolle, Berggeister und Waldfeen lebten, taten sich vor einiger Zeit zwei außergewöhnlich musikalische Menschen...
Mutig ist, wer sich dem Unbekannten stellt, wer über Grenzen hinausgeht, unbequem, unangepasst und experimentell, ja vielleicht sogar visionär wird. Mit seiner neuen CD-Einspielung...