EINE GESAMTAUFNAHME DER SUPERLATIVE
18. JUNI 2020
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Nicole Hacke / CD Cover Sony Classical / Fotografie Gregor
Hohenberg
Als im Sommer 2017 ein Weltstar den Mount Everest bezwang, und zwar im vokalathletischen Sinne, war die Aufregung um das bevorstehende Großereignis so enorm, dass sämtliche Opernvorstellungen am Covent Garden in London bereits Monate im Voraus bis auf den letzten freien Sitzplatz ausgebucht waren, denn kein Geringerer als der Münchner Tenor Jonas Kaufmann wollte der Welt zeigen, dass er endlich soweit war, sich an eine der schwierigsten Rollenpartien des Opernfachs heranzuwagen: Verdis Otello.
Kaum zwei Monate vor der Premiere stand ich vor dem Schalter des Londoner Ticketbüros, um mir zumindest eine Karte für die lang herbeigesehnte Neuinszenierung zu sichern. Doch ich hatte keine
Chance, auch nur ein einziges Ticket für lediglich eine der unzähligen Vorstellungen zu ergattern.
"Restlos ausverkauft", bedeutete mir der freundliche Mitarbeiter des Kartenbüros mit negierendem Kopfschütteln, und beteuerte vehement sein Bedauern über die schlechten Neuigkeiten, die er mir leider Gottes überbringen musste.
Nur zu gut, dass das Glück oftmals eine Frage des richtigen Moments ist. Ein einzelner Platz in der siebten Reihe des Parketts wurde gerade mal zwei Wochen vor dem finalen Startschuss für die
zweite Vorstellung per Zufall und online frei und ich schlug, ohne mir überhaupt Gedanken über den horrenden Ticketpreis zu machen, einfach, Macht der Spontanität, zu.
©Nicole Hacke / CD Inlet Sony Classical / Fotografie Gregor Hohenberg
Eine Inszenierung mit Jonas Kaufmann, auf die die Welt sehnsüchtig gewartet hatte, konnte und wollte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Nun hielt ich eines dieser begehrten Eintrittskarten in Händen, konnte es beinahe selbst nicht glauben und wusste gleichermaßen, dass ich stolze Besitzerin eines der „hottest tickets in town“ war.
Ich fieberte erwartungsvoll auf diesen besonderen, wohl einzigartigen Tag, hin und erlebte ein Live-Event der Sonderklasse. Jonas Kaufmann erklomm in jenem Jahr den Mount Everest seiner
gesanglichen Karriere mit Pauken und Trompeten und behauptete sich meisterhaft in einer der wohl charakterstärksten Rollen des Opernfachs, die einem Sänger nicht nur schauspielerische Exzellenz
abverlangt, sondern vielmehr das emotionale Vermögen, tiefer als gerade mal tief in die menschlichen Abgründe der Seele einzutauchen und eine harmonische Symbiose aus gesanglicher Perfektion und
psychologischem Feinschliff herzustellen.
Aus Respekt vor dieser Charakterrolle, die vor allem gesangstechnisch höchsten tenoralen Ansprüchen genügen muss, verlangt sie doch ein stark ausgeprägtes baritonales Fundament, das besonders in
den hohen Tonlagen mit einer leuchtenden Brillanz bestechen sollte, steigerten sich Kaufmanns stimmliche Qualitäten mit den Jahren über die verschiedensten Opernpartien verteilt so weit, dass die
Furcht vor dieser scheinbar unbezwingbaren Gesangspartie, einem souveränen und gesunden Selbstbewusstsein wich.
Mit der Reife der Stimme und der satten baritonalen Klangfarbe, die Kaufmanns dunkelsamtigen Schmelz immer deutlicher herausstellte, wuchs zudem die Zuversicht, dass auch der psychologisch nicht
zu unterschätzende schauspielerische Anteil am Charakter des Otello zu bewerkstelligen sei.
©Jonas Kaufmann / Sony Classical - Otello Trailer
Wut, Hass, Rachsucht, Zorn, Eifersucht - ein ganz großes, von Zerstörung, ja Selbstzerstörung getriebenes Drama, wie es nur Shakespeare schreiben konnte, sind die phsychologischen Elemente, die diesem dunklen, bedrohlichen Helden, die Antriebskraft, das Feuer, die Leidenschaft und die Besessenheit geben, den Mord an seiner Frau zu begehen.
Wer bekäme da nicht auch Angst vor so einem Wahnsinnigen. Negative Gefühle in ihrer ganzen wuchtigen Gewalt auszuleben, und das womöglich auf Knopfdruck überzeugend geschauspielert, ist äußerst
schwierig, ganz besonders, wenn man sich dieser zerstörerischen Emotionen noch nie so vollumfänglich ermächtigt hat, sie einem mehr oder minder realitätsfern und teils auch absolut fremd sind.
Was es da braucht, um siegesgewiss in die Rolle hineinzuwachsen, ist eine ausbalancierte Emotionalität, die intelligent aus einer distanzierten Wahrnehmung eingesetzt, zu gesanglichen und
schauspielerischen Höchstleistungen anstachelt.
Von der kontrollierten Ekstase, die einst Karajan als eindeutige musikalische Begrifflichkeit etablierte, ist bei Otello oftmals die Rede, wenn es darum geht, darstellerisch bis zum Äußersten zu gehen, sich aber nicht vollständig in der Wahrhaftigkeit der echten Gefühle zu verlieren.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Jonas Kaufmann war sich dessen wohl schon immer bewusst, als er 2017 schlussendlich das Londoner Opernhaus zum Beben brachte. Mit ausreichend emotionaler Intelligenz bestückt und einer gehörigen Portion Respekt vor Verdis musikalischem Erbe, erarbeitete er sich so sicheren Schrittes, Stück für Stück, seine ihm auf den Leib geschneiderte, eigene Interpretation der Rolle des maurischen Kriegsherren, ohne aber jemals die Grundidee und den Charakter des Meisterwerks zu verfälschen oder gar zu entfremden.
Als moderner Otello, der dem aktuellen Zeitgeist so nah kommt, wie ansonsten kein anderer Interpret seines Fachs, verewigt sich Kaufmann nun endlich auch auf Tonträger.
Sony Records sei Dank, entstand in einer 14-tägigen groß angelegten Aufnahmesession unter dem Dirigat von Sir Antonio Pappano ein musikalisches Juwel in Präzisionsarbeit.
Unter Mitwirkung des Orchesters und des Chors der "Accademia Nazionale Di Santa Cecilia" in Rom wurde am 12. Juni 2020 dann endlich die lang erwartete Gesamtaufnahme publiziert, für die sich
Dirigent, Sänger und Orchester die Zeit genommen hatten, die es brauchte, um etwas ganz Besonderes, etwas Einzigartiges auf die Beine zu stellen.
Selten kommt es vor, dass ein Aufnahmestudio geschlagene zwei Wochen für eine einzelne Produktion in Beschlag genommen wird. Doch das Resultat lässt sich gut und gerne immer wieder mit
Begeisterung anhören.
©Musacchio, Ianniello & Pasqualini / virtuelle Pressekonferenz vom 15. Juni 2020 -
Tenor Jonas Kaufmann
Nur was man als Laie nicht ahnt, wenn man so unverblümt von einem Opernmitschnitt ausgeht: die gesamte Tonaufnahme musste ganz ohne das eigentliche Bühnenspektakel auskommen. In einem nackten Tonstudio, nur von der unendlichen Leidenschaft und nicht verebben wollenden Motivation des Dirigenten getrieben, konnten all die wahrhaften Gefühle vereinnahmt und so perfekt reproduziert werden, so glaubhaft und authentisch, dass ich mich beim Anhören der Tonaufnahme sofort wieder in das Parkett des Londoner Opernhauses zurück versetzt fühlte.
Leicht war die Arbeit an dem Album nicht. Je nach Verfügbarkeit des Ensembles wurden zuerst Passagen aus dem dritten, dann aus dem zweiten und ersten Akt aufgezeichnet bis sie sich wie bei einem
Puzzlespiel, nach und nach zu einem transparenten, übergangslosen großen Ganzen zusammenfügten.
Auch Kaufmann erlebte diese Sprunghaftigkeit der nicht wirklich chronologischen Aufnahmefolge ambivalent. Aus der Tagesform heraus, mal besser, mal schlechter gestellt, ließen sich die Emotionen
in der gleichen Manier nicht exakt so rekreieren, wie noch am Tag zuvor.
Doch die katalysierende Dynamik zwischen den Darstellern und dem Orchester machte aus dem kompositorischen Werk Verdis ein formvollendetes Musikprojekt, das seinesgleichen ganz sicher immer wieder suchen wird.
Kein Sänger musste sich zudem im Kräftemessen mit den mehr als 100 Dezibel starken Klangvolumen der Instrumentalisten behaupten.
Wichtig sei die perfekte, auf den jeweiligen Sänger, gut abgestimmte Dosierung des orchestralen Klangteppichs, so Antonio Pappano, der sich in der Pressekonferenz am 15. Juni 2020 darüber
ausließ, dass Verdis Meisterwerk zu einem der anspruchsvollsten Tonwerke zähle, die insbesondere im Aufnahmestudio den Interpreten höchsten Einsatz und leidenschaftliche Hingabe abverlange.
©Musacchio, Ianniello & Pasqualini / virtuelle Pressekonferenz vom 15. Juni 2020 -
Dirigent Sir Antonio Pappano
Dass Jonas Kaufmann zu Beginn seiner "Mount-Everest-Besteigung" oftmals der Sauerstoff ausging, kann man kaum glauben, wenn man der sonoren, in den Höhen und Tiefen perfekt austariertem Stimme des baritonal eingefärbten Tenors lauscht.
Entspannter sei er geworden, bekräftigte ein gut gelaunter Jonas Kaufmann in der virtuellen Pressekonferenz, und fügte noch hinzu, dass, sobald man Stimme und Gefühle unter Kontrolle bekäme, der Part des Otello einfach fantastisch zu singen sei.
Alles in allem hilft aber auch die kompositorische Herangehensweise Verdis, der als musikalischer Purist geltend, seinen Hauptakteuren allesamt eine Bühne möglicher Interpretationsspielräume
bietet. Doch den emotionalen Bogen sollte man dabei nicht überspannen, denn der Grat zwischen schön und scheußlich ist eindeutig schmal.
Das weiß auch Jonas Kaufmann, der auf seiner musikalischen Gratwanderung zum Gipfel des "Mount Everest" den Respekt und die Achtung vor diesem epischen Meisterwerk nie verloren hat und seine Kräfte daher gut bündeln kann. Aus diesem Grund geht ihm wohl auch so leicht der Sauerstoff nicht mehr aus.
Als im Sommer 2017 der finale Schlussakkord im Orchestergraben des Londoner Opernhauses zart und kaum merklich verstummte, Jonas Kaufmann seinen letzten Ton
aushauchte, bevor sein Körper über Desdemonas Leichnam in sich zusammensackte, wurde es totenstill im Auditorium.
Noch bevor die Lichter im Saal langsam wieder angingen, sah ich, wie sich aus der Reihe vor mir ein Mann mit tränenbenetzten Wangen zu mir umdrehte. Er hatte geweint, genauso wie ich.
©Jonas Kaufmann / Sony Classical - über Youtube zur Verfügung gestellt
Am 12. Juni 2020 ist endlich die lang erwartete Gesamtaufnahme von Verdis Otello in Starbesetzung auf Tonträger erschienen. Mit dem Orchester und dem Chor der Accademia Nazionale di Santa Cecilia und unter der Leitung von Sir Antonio Pappano, singt der Münchner Tenor Jonas Kaufmann das vollständige Arienrepertoire aus diesem epischen Werk Verdis.
Das Duett zur Arie "Già nella notte densa" ist als kleiner Vorgeschmack in anbei gefügtem Video-Clip zu hören. Viel Spaß dabei!
©Musacchio, Ianniello & Pasqualini / virtuelle Pressekonferenz vom 15. Juni 2020 - Jonas Kaufmann
Jonas Kaufmann im virtuellen Gespräch über die "Mount Everest" Besteigung seiner Karriere und warum ihm noch vor zehn Jahren der Sauerstoff auszugehen schien. Das und noch vieles mehr in meinem Folgebeitrag:
Nicole (Freitag, 17 Juli 2020 17:43)
Liebe Waltraud,
Etwas unsinnig finde ich doch eher Ihren sehr wenig konstruktiven Kommentar auf meiner Seite. Ihre Meinung dürfen Sie sehr gerne äußern und Sie dürfen auch anderer Aufassung sein. Nur schreibe ich hier die Texte und bitte um etwas Respekt meiner Person gegenüber.
Wie sie richtig erkannt haben, handelt es sich um einen Saal, der aber in diesem Fall lediglich als "Aufnahmeort" genutzt wird. Falls Sie schon mal eine Platte im Studio oder in einem Saal aufgenommen haben, dann sollten Sie wissen, dass das wenig Charme hat.
Ihnen noch einen schönen Tag.
Waltraud Becker (Freitag, 17 Juli 2020 12:52)
In einem nackten Tonstudio.... Was ür ein Unsinn!!!
Waren Sie mal in diesem "Studio"? Das ist der Saal des Parco di Musica in Rom!!! Dort wurde auch die sensationelle AIDA aufgenommen, die Butterfly ebenso. Die konzertante AIDA nach der Aufnahmesession war überirisch!