17. Oktober 2021
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Mutig ist, wer sich dem Unbekannten stellt, wer über Grenzen hinausgeht, unbequem, unangepasst und experimentell, ja vielleicht sogar visionär wird.
Mit seiner neuen CD-Einspielung, auf der sich 20 ausgewählte Lieder des österreichisch-ungarischen Komponisten Franz Liszt verewigt haben, verlässt der Münchner Tenor Jonas Kaufmann am 18. September 2021 den bequemen und gut ausgetretenen Pfad seiner bis dato kommerziell ausgereizten Vertonungen.
Liszt, der als ewig verkannter Liedkomponist neben Schumann, Schubert und Strauss nie ein Plätzchen auf den oberen Rängen der Liedschaffenden ergattern konnte, erfährt nun durch den weltbesten Tenor, vielleicht sogar erstmals in der Musikgeschichte, eine Rehabilitierung als veritabler Komponist des Kunstliedes.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Und Kunst ist es wahrhaftig, was uns auf dieser CD-Einspielung erwartet. Obgleich es mehrere Anläufe braucht, um sich dieser ungewöhnlichen Mixtur aus eigenartigen Liedkompositionen anzunähern, die wenig gefällig, kaum melodiös, dafür aber umso kantiger, sperriger und schwer greifbar daherkommen, taucht man mit der Gewöhnung immer tiefer in eine verdichtete, klangintensive Welt der Liederzählung ein.
Dem Gehör wird musikalisch viel abverlangt, dem Zuhörer neben Geduld und Durchhaltevermögen zudem noch die Gabe, sich in diese fast schon avantgardistische Tonalwelt hineinzuversetzen, die sowohl impressionistische Züge annimmt als auch stark expressiv atonale Entgleisungen à la Schönbergs 12-Ton-Musik liefert.
Aber nicht alle Lieder Liszt sind gleichermaßen "vergiftet". Es gibt Freudvolles und Leidvolles, Verklärtes, Imaginäres und Lichtblicke, die uns mit "Lieb, solang du lieben kannst" wieder auf den Boden eines traditionell-konventionellen, ja nahezu romantischen Liedrepertoires zurückkehren lassen.
Melodiös eingängig, überschwänglich, nahezu leidenschaftlich brennend erlebt man hier die Liebe in ihrem ganzen lodernden Eifer. Kein Wunder, dass sich der "Liebestraum Nr. 3" als reines Instrumentalwerk des Liedvorläufers bis heute eines phänomenalen Welterfolges erfreut.
©Lena Wunderlich / Sony Classical
©Lena Wunderlich / Sony Classical
Ob irdisch entrückt oder von irisierenden Klangfarben expressiv überbordend: Eines haben alle Lieder auf dieser Kompilation gemeinsam. Sie leben von einer ausgereiften, extrem intensiven Korrelation zwischen Konsonanzen und Dissonanzen.
So erlebt man in "Vergiftet sind meine Lieder" ein tonal grenzwertiges Spannungsverhältnis, aus der sich der Hörende kaum befreien kann, zumal auch der letzte Akkord des Liedes in einem Nichts aus Atonalität zu verklingen scheint, unaufgelöst und in der Dissonanz verharrend.
Die Experimentierfreude mit verschiedenen musikalischen Stilmitteln kommt hierbei außerordentlich zum Tragen, wobei weder gefällige Anordnungen der Harmonien noch der absolute Schönklang in übergeordneter Weise interessieren.
Vielmehr geht es in dieser kunstvollen Liedgestaltung um das Hervorheben der Dissonanz als bildliches Gestaltungsmerkmal, als stilistisches Mittel, um des lebendigen Erzählens einer Handlung willen: sozusagen Programmmusik für Gesang, erzeugt allein durch die Intensität der gehäuft unaufgelösten Dissonanzen.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Jonas Kaufmann gewinnt mit seiner gesanglichen Interpretation auf ganzer Linie, obgleich die stimmliche Herangehensweise zu Anfang recht gewöhnungsbedürftig, ja sogar etwas fremd anmutet.
So hat man leicht das Gefühl, das "vergiftete Lied" wird zum einzigen großen Schrei, in dem der Gesang nicht auf schön, sondern auf authentisch und expressiv ausgerichtet ist. Der wahrhafte Schöngesang weicht einer tief empfundenen Emotion, die sich in ihrer ausdrucksstärksten Form entlädt. Und das ist neu, das ist ganz anders als die stilisierte Kunstform des tenoralen Gesangs, derer sich Kaufmann ansonsten immer so virtuos und glänzend bedient.
Ebenso wie beim verträumten Sinnieren in "Die Glocken von Marling" setzt Kaufmanns Stimme dieses Mal nicht auf pure Ästhetik, sondern fokussiert sich auf einen charakterstarken Ausdruck. Der Gesang in seiner reinsten Form steht somit nicht im Mittelpunkt des musikalischen Universums, sondern das Vermögen, eine Geschichte gesanglich spannend zu transportieren und sie dem Zuhörer plakativ zu vermitteln.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Absolut formvollendet erlebt man auch die Klavierbegleitung, die den Erzählcharakter des Kunstliedes so visuell unterstreicht, dass man sich beinahe in eine Märchenstunde zurückversetzt fühlt.
Dabei versteht es Helmut Deutsch, dem Sänger eine Bühne zu bereiten, ohne sich dabei in den Hintergrund spielen zu müssen.
Mal säuselnd, mal explosiv aufbrausend, immer dann, wenn der Gesang aussetzt, nur dann spinnen die flinken Finger des Klaviaturmeisters die Geschichte weiter. So entsteht ein Bildnis, ein visuelles Musikerlebnis, das jede einzelne Liedgeschichte zum Leben erweckt.
Keine Eintagsfliege, aber ein "schwerer Brummer" ist und bleibt diese neue CD-Einspielung Kaufmanns, die man sich musikalisch erst hart erarbeiten muss, bevor man sich bequem in diese Liedauswahl versenken kann.
Tatsächlich strahlt sie dann jedoch modern, frisch und inspirierend in die Gegenwart ab.
©Jonas Kaufmann / über Youtube zur Verfügung gestellt
"O lieb, solang du lieben kannst", ist wohl eines der melodiösesten und eingängigsten Lieder, die der österreichisch-ungarische Komponist Franz Liszt vertont hat. Die Melodie kommt einem gleich beim ersten Hören sofort bekannt vor, zwar nicht in der Liedfassung von 1845, sondern vielmehr in der Vertonung für Klavier, die als "Liebestraum Nr. 3" musikalischen Welterfolg erlangte.
In der Liedfassung, gesungen vom Münchner Tenor Jonas Kaufmann, erlebt man dieses virtuos eruptive Klangerlebnis des Liebestraums heruntergedampft auf den einfachen tonalen Gehalt eines Kunstliedes. Mit reduzierter Klavierbegleitung wird dem Sänger eine Bühne bereitet, auf der er sich interpretatorisch und gestalterisch voll und ganz austoben kann.
©Jonas Kaufmann / über Youtube zur Verfügung gestellt
Der Tenor Jonas Kaufmann und sein Liedbegleiter Helmut Deutsch erzählen über die Beweggründe, die zur Entstehung dieses Albums geführt haben. Deutsch, der sich bereits in seiner frühen Jugend mit dem Liedgut Franz Liszt´ befasst hat und ein glühender Verehrer seiner Kunst ist, steht mit seinem Namen hinter dieser CD-Einspielung.
Als treibende Kraft konnte er seinen langjährigen Freund, den Tenor Jonas Kaufmann, davon überzeugen, gleich ein ganzes Album mit sage und schreibe 20 Liedern des österreichisch-ungarischen Komponisten Franz Liszt aufzunehmen.
©Jonas Kaufmann / über Youtube zur Verfügung gestellt