07. März 2024
Rubrik CD Tipps & Literatur
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper / Sony Classical
Sensationell ist das letzte Meisterwerk Richard Wagners, das sich mit Jonas Kaufmann, Elīna Garanča, Georg Zeppenfeld, Wolfgang Koch und Ludovic Tézier auf einer CD-Einspielung verewigt, die zur Jahrhundertaufnahme gekürt werden müsste.
Als Live-Mitschnitt der aus dem Jahr 2021 stammenden Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper präsentieren sich auf 4 CDs vier Stunden magische Momente, die ihren Anfang nehmen, als die Welt plötzlich still wird, die Ruhe vor dem Sturm beängstigend groß ist, leere Straßen, Städte und kulturelle Einrichtungen an der Tagesordnung stehen und sich zu einem Normalzustand etablieren.
Von Nicole Hacke
Trotz allem spielt im ersten Haus am Ring die Musik trotzig weiter, aufbegehrend gegen die zwangsweise verordnete Kulturimmanenz - und Abstinenz.
Die fünf begehrten Operngrößen bringen in einer Neuinszenierung des russischen Regisseurs Kirill Serebrennikov Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal auf die Bühne, wie es die Welt zuvor so noch nie gesehen hat.
Währenddessen wird Serebrennikov in seiner Wohnung in Russland mit einer Fußfessel unter Arrest gestellt und kann seine politisch inspirierte Inszenierung nicht vor Ort supervisieren.
Vielleicht genau aus dem Grund gelingt ihm ein inszenatorischer Geniestreich, Wagners Werk in seinem musikalischen Wesenskern mit Sinn zu füllen und ausdrucksstark zu konturieren, Politik hin oder her.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Nicht jeder lässt sich ein, worauf es Serebrennikov ankommt, was seine Motivation zu dieser auf links gekrempelten Gegenwartsrealität antreibt und warum man sich plötzlich einer entmystifizierten, entglorifizierten und wenig märchenhaften Heldengeschichte ausgesetzt sieht, die anstatt der mächtigen Gralsgemeinschaft von desillusionierten Gefängnisinsassen erzählt, die ihrer Freiheit beraubt und um ihren Glauben betrogen sind.
Empörung über so viel gestalterische Einfältigkeit, die scheinbar auf einem politischen Meinungsbild basierend, ein uninspiriertes Abbild Wagners sphärisch entrückter Welt zeichnet, macht sich hie und da breit - auch in der Presse. Gelobt und mit Begeisterung gefeiert wird es allerdings auch.
Doch dass wir es eventuell mit einer Jahrhundert-Inszenierung zu tun haben könnten, einem brillanten Gesellschaftspsychogramm, das sich inszenatorisch vielleicht sogar noch in der Musikgeschichte verewigen wird, erscheint der Meinungsmehrheit wohl abwegig.
Zu viel modernes Regiegebaren, zu viel vom Zeitgeist der kaputten, aus den gesellschaftlichen Angeln gehobenen Welt, in der wir rein faktisch aber nun mal leben und in der wahre Helden oftmals unprätentiös und bescheiden im Hintergrund agieren.
Noch dazu scheint es, als bliebe bei all der eitlen in "Szene-Setzung" der idealisierte Erlösungsgedanke vollends auf der Strecke, wenn für Serebrennikov die Zeit zum Raum und ein baldiges Entkommen aus der Gefangenenwelt plötzlich unmöglich, wenn nicht sogar aussichtslos wird.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Was für eine deprimierende Vorstellung, in die wir uns doch ganz selbstverständlich immer wieder, tagtäglich hineinmanövrieren - und noch dazu freiwillig.
Kämpfen wir nicht ständig gegen die Zeit und wird unser Raum nicht zum klaustrophobischen Alptraum eines erdrückenden Gesellschaftskonformismus, in den wir von der Zeit getrieben, rastlos, ruhelos und ohne Sinn und Verstand ein limitiertes Leben abseits unserer Berufung leben.
Die große Frage, die Frage aller Fragen, wer wir nämlich sind, was uns ausmacht, was Menschsein in allen Facetten der Ethik und der Sinnstiftung und Sinnbringung bedeutet, genau darum geht es Serebrennikov en detail!
Der Erlösungsgedanke, während wir Zeit unseres Lebens immer wieder zwischen Gut und Böse hin- und herschwanken, ist die Frucht einer Saat, die kontinuierlich mit den Lehren der Ethik, der Würde und des Menschlichen gedüngt werden will - eine Lebensaufgabe, eine Meisterschaft, die nie Vollkommenheit, geschweige denn Vollendung erreichen wird.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Dabei ist die Suche nach dem Heiligen Gral lediglich eine Illusion, die als Synonym für das materielle Glück steht. Erinnern wir uns an die Szene im letzten Akt von Serebrennikovs Inszenierung:
Kaufmann kommt seiner Erlösung und der der Gralsgemeinschaft gefährlich nah. Er begreift just in dem Moment, als er die unverschlossenen Gefängnistüren eine nach der anderen öffnet, dass weder er noch die anderen jemals in Raum und Zeit gefangen waren.
Was für ein Augenöffner diese Szene doch ist, zeigt sie uns doch klar und deutlich, dass wir allein mit unseren Gedanken darüber entscheiden, wie frei oder unfrei wir uns machen, in welche geistige Abhängigkeit wir uns in allen Lebenslagen begeben oder eben nicht.
Und der Heilige Gral ist bereits in uns angelegt und öffnet sich dann, wenn wir uns unseres Menschseins bewusst werden, uns auf die Suche nach uns selbst begeben und das reine, immaterielle Glück als unser höchst individuelles Verständnis für Sinnerfüllung erleben.
Auf dieser fantastischen CD-Einspielung liegt uns in jedem Fall die tonal vielschichtige, emotional gesättigte und klangfarbenreiche Welt des Heiligen Grals zu Füßen.
Mit Künstlern, die ihr "Handwerk" verstehen, die sich darstellerisch und insbesondere gesanglich auf dem Höhepunkt ihrer jeweiligen Karrieren befinden, wird das kompositorische Meisterwerk Wagners zur Raum füllenden, vierstündigen Erlebnisreise durch die Irrungen und Wirrungen des Menschseins.
Hier keimt die tonale Saat, wächst in musikalisch beglückende Sphären, berauscht und lädt zur Muße ein.
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Philipp Jordans sensibles Dirigat, dass klangteppichzarte Verästelungen gleich einem hauchdünnen Film aus pastelligen Harmonien verströmt, lässt den Hörer eintauchen in die Mystik und die damit verbundene Schönheit dieses transzendierenden Musikerlebnisses.
Man hebt nach spätestens einer Stunde musikalischer Ergüsse ab, verliert den Boden unter den Füßen und löst sich schwebend in der reich orchestrierten Traumwelt auf, die eindrücklich und balsamisch im Gehörgang hängen bleibt.
Wohl auch, weil große Namen diese Einspielung mit ihrem herausragenden Gesang beehren. Es sind Stimmen, die man immer wieder gerne hört, ganz besonders in dieser außergewöhnlichen Konstellation und noch dazu bei einem Werk, das Wagners kompositorischen Höhepunkt so bezeichnend markiert.
Völlig unabhängig von jeglicher Inszenierung, sei sie nun gut oder schlecht, verständlich oder konfus:
Die Musik Parsifals kann man auch unbedenklich ohne visuelle Reize genießen. Das Werk spricht musikalische Bände, lässt bewegte Bilder vor dem inneren Auge entstehen und entfacht problemlos die imaginäre Vorstellungskraft.
Sicherlich eignet sich nicht jede Inszenierung für einen Live-Mitschnitt. Doch mit solch prominent besetzter Cast ist der Erfolg dieser CD-Einspielung längst vorprogrammiert.
20. April 2021
Rubrik Oper
©Michael Pöhn / Wiener Staatsoper
Wagners Meisterwerk Parsifal, das sich in einer fulminanten Neuinszenierung an der Wiener Staatsoper als aufregender, sündiger und zum Teil verstörend spannungsgeladener Befreiungsthriller entpuppt, sorgt für provokativ frischen Wind mit tiefenpsychologischer Strahlkraft.