20. April 2022
UNAUFGEFORDERTE WERBUNG
©Julian Hargreaves / Sony Classical
"The Tenor", so soll das neue Album des Münchner Tenors Jonas Kaufmann heißen, das am 29. April in den digitalen und analogen Plattenläden erscheint. Um etwaigen Missverständnissen gleich im Vorwege entgegenzuwirken, es handelt sich bei dieser Allrounder-CD nicht etwa um ein Jahrhundertwerk mit einem sensationellen, noch nie gehörten ariosen Repertoire.
Ganz im Gegenteil hat sich der Tenor der Tenöre ein Patchworkgeflecht aus mehreren seiner bisher veröffentlichten Arienalben gewoben und diese in einer individuellen Kompilation neu zusammengestellt.
Oder um es in gängiger Bloggersprache zu verdeutlichen: Aus Alt mach Neu, denn "Content Recycling" erspart kreative Anstrengungen, etwas grundsätzlich Neues aus dem Boden stampfen zu müssen und lässt sich ebenfalls, wenn nicht sogar richtig gut verkaufen.
Warum auch nicht? Schließlich lautet das Credo des Tenors, Opernlaien den Zugang zur klassischen Musik zu erleichtern, sie mit der dargebotenen Auswahl an Opernklassikern an das unberechtigterweise elitäre Genre heranzuführen. Eine gute Idee und marketingtechnisch recht ausgewieft.
Doch statt "The Tenor" könnte der Titel des Albums noch viel treffender "Arien für alle" oder "Arien für jedermann" lauten, denn darum geht es dem Opernsänger im Kern seiner tenoralen Botschaft.
©Julian Hargreaves / Sony Classical
©Julian Hargreaves / Sony Classical
Und ja, die Auswahl des Arienrepertoires liest sich gefällig, gehörgängig und absolut genussvoll. Nicht eine einzige Arie würde ich auf dieser CD wohl verschmähen wollen oder gar von der musikalischen Bettkante schubsen. Allesamt sind sie süffig, melodisch und fast schon zum Mitsingen schön.
Und wer sie wohl am weltbewegendsten singt, ist eben auch kein anderer als der Tenorissimo Jonas Kaufmann. Das musikalische Konzept geht somit auf.
Denn für den Operneinsteiger könnte tatsächlich ein bequemer Schuh daraus werden. Und mit Speck, in diesem Fall ganz hervorragender, fängt man bekanntlich Mäuse.
Zu dumm nur, dass mich das wieder Mal verdächtig an die vergangene winterliche Verkaufssendung mit Judith Williams erinnert, in der eine Weihnachts-CD des Tenors so marktschreierisch feilgeboten wurde.
Nicht das ich etwas gegen Bizets Carmen oder Verdis Rigoletto hätte, gegen die italienischen Schmonzetten aus den 50er-Jahren habe ich sowieso noch viel weniger einzuwenden. Ich liebe sie.
Ach, und das so beseelte Brahmsche Wiegenlied - Himmel, wie schön das nun wieder klingt - wenn es von Jonas Kaufmann ganz samten weich und im innigen Flüsterton einer baritonal durchwirkten Stimme dargeboten wird.
Der Haken an der Sache ist leider nur: Ich besitze bereits eine regalfüllende Sammlung unzähliger Kaufmann CDs, auf denen genau diese Arien und Lieder zu hören sind.
©Julian Hargreaves / Sony Classical
Ich kenne sie in- und auswendig, kann sie jederzeit mitsingen, mitsummen sowieso. Einen Überraschungseffekt gibt es auf diesem vermeintlich neuen Album für mich absolut nicht. Die Nadel im Heuhaufen müsste ich da suchen und würde sie nicht finden.
Absolute Fehlanzeige: Kein einziges Highlight, das sahnebonbonverdächtig in irgendeiner Weise neu, anders oder überhaupt noch nie zuvor auf Tonträger aufgenommen wurde und schimmernd wie ein funkelnder Diamant zwischen den ariosen Alltagsperlen hervorblitzen könnte.
Noch so eine CD mit altbewährten Arien, nur weil sie auf Hochglanz poliert im neuen musikalischen Licht erscheinen?
Nein! Ich sage dankend "Nein" und wünsche mir keine recyclefähigen CD-Kompilationen, weder von Herrn Kaufmann noch von irgendeinem anderen Interpreten.
Denn wenn "The Tenor" auf dem Album-Cover dick und fett angepriesen wird, dann erwarte ich keine Kompromisse, sondern musikalische Zugeständnisse von höchster Güte.
Ansonsten müsste es bescheiden wie noch vor ein paar Jahren auf dem Buchdeckel der Kaufmann-Biografie schlicht und ergreifend "A Tenor" lauten. Andere Tenöre dergleichen Liga können nämlich auch mit diesem Repertoire die ariose Hemisphäre bereichern.
©Julian Hargreaves / Sony Classical
Wie wäre es denn zur Abwechslung einfach mal und weil es gar so schön ist mit Schumanns Dichterliebe Op. 48 oder Op. 39?
Erstere hatte der Tenor noch während des Corona-Lockdowns mit so viel leidenschaftlichem Esprit und Herzschmerz in den erlauchten Hallen der Bayerischen Staatsoper ganz im Stillen und ohne Publikum zum Besten gegeben.
Schumanns Dichterliebe! Wär könnte sie derzeit inniger und beseelter interpretieren wie eben ein Jonas Kaufmann.
"Du meine Seele, du mein Herz..." Meines würde jedenfalls signifikant höherschlagen als bei dieser neuen alten Nicht-Einspielung. Außerdem wissen wir doch alle, wie experimentell, originell, unkonventionell und weit über den Tellerrand hinaus innovativ Jonas Kaufmann musikalische Exempel statuiert und damit Außergewöhnliches zutage fördert.
Auf jeden Fall ist "The Tenor" ein Allrounder für all diejenigen, die sich ein erstes hörtechnisches Bild von der klassischen Musik machen wollen. Sie ist sogar ganz sicher eine Einsteiger-CD mit irreversiblem Suchtpotenzial.
Auch den Opernenthusiasten würde ich sie wärmstens empfehlen. Allerdings auch nur dann, wenn ihr CD-Regal nicht schon mit Kaufmann CD-s überquillt.
Doch wenn ich absolut ehrlich sein soll: Meine CD-Geheimtipps für die absolute Einsteigerdroge in die Welt der E-Musik sind derer zwei, natürlich ganz ohne Gewähr:
1. Du bist die Welt für mich - Jonas Kaufmann
2. Dolce Vita - Jonas Kaufmann
Wer es schafft, diese beiden CDs nonstop rauf und runter zu dudeln, ist meines Erachtens auf dem besten Weg, ein Opernliebhaber zu werden. Und das ist wirklich, absolut wirklich nicht das Schlechteste.
©Jonas Kaufmann / über youtube zur Verfügung gestellt
"Parla più piano" eine italienische Canzone des Filmkomponisten Nino Rota. Auf seinem Dolce Vita Album aus dem Jahr 2017 hat Jonas Kaufmann diesen Musikklassiker mit stimmlicher Beseeltheit und entrückter Melancholie gebührend gewürdigt.
©Jonas Kaufmann / über youtube zur Verfügung gestellt
"Voglio vivere così" eine Ode an die Schönheit des Lebens, so erfrischend und mit sonnig südländischer Wärme erklingt der Hit des Komponisten Giovanni D´Anzi, wenn Jonas Kaufmann diesen zum Besten gibt.
©Royal Opera House London / über youtube zur Verfügung gestellt
"Donna non vidi mai" eine Schmachtarie an die Geliebte. Süffig, voller unerfüllter Sehnsucht und der Prise bittersüßem Herzschmerz. Puccini hat alle Zutaten aus schwelgerischer Liebe und Liebestrunkenheit in einer Komposition vereint.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Leise, still und heimlich ist die neue CD von Jonas Kaufmann, die am 04. September im Handel erschienen ist, während des Corona-Lockdowns irgendwo zwischen München und dem bayerischen Oberland entstanden, ganz sicher jedoch in einem privaten Tonstudio, das der vielseitige Tenor für sein besonderes Herzensprojekt genutzt hat.
©Gregor Hohenberg / Sony Classical
Mutig ist, wer sich dem Unbekannten stellt, wer über Grenzen hinausgeht, unbequem, unangepasst und experimentell, ja vielleicht sogar visionär wird. Mit seiner neuen CD-Einspielung, auf der sich 20 ausgewählte Lieder des österreichisch-ungarischen Komponisten Franz Liszt...